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DIENSTAG 14. JUNI 2

Wir klopfen an eine Tür. „1943“ steht auf den Betonstufen, die zum Haus führen. Wir wissen, dass dies die Art von Haus ist, die meinem Vater von seinen Besuchen in Erinnerung ist. Der Baustil hat wirklich etwas Besonderes. Das Haus ist eindeutig alt genug. Könnte es sich um das gesuchte Haus handeln? Eine Frau mit weißen Haaren lässt uns ein. Die Frau des Bürgermeisters dolmetscht. Wir werden im Haus herumgeführt, von einem Raum zum anderen. Doch leider erklärt mein Vater, dies sei NICHT das fragliche Haus. Die Anordnung der Räume passt nicht zu seinen Erinnerungen. Wir setzen unsere Tour fort und fahren weiter durch Aigen.

Einige Minuten später bleiben wir vor einem anderen Haus stehen. Über der Tür ist der Name „Lackner“ zu lesen. Frau Weinhandl erklärt uns, dass hier Frau Maria Lackner wohnt, jene 85jährige Dame, deren Tochter wir in der Schule kennen gelernt haben. Sie ist die Frau, deren Geschichte auf derselben Tafel dargestellt ist, wie die meines Vaters. Seit sechzig Jahren erzählt sie, wie sie den Juden zu essen gab. Seit sechzig Jahren erzählt mein Vater, wie er in den Dörfern hier von warmherzigen Frauen mit Lebensmitteln versorgt wurde. War es möglich, dass sie dieselbe Geschichte erzählten? Waren ihre Erinnerungen verschiedene Teile ein und desselben Drehbuchs? Wir stehen kurz davor, das herauszufinden.

Wir klopfen an die Tür, ohne angekündigt zu sein. Frau Lackner ist überrumpelt. Sie muss sich erst ein hübscheres Kleid anziehen, ehe sie uns hineinbittet. Etwa eine Stunde lang tauschen mein Vater und sie Erinnerungen aus, während Frau Weinhandl dolmetscht und ich alles auf Video aufnehme. Es ist kurz vor Mittag. Wir kommen darin überein, dass wir Frau Lackner noch einmal besuchen müssen. Sie bittet uns wiederzukommen, wenn ihre beiden Töchter anwesend sind und beim Dolmetschen helfen können. (Wie sich herausstellt, hat Frau Lackner noch eine weitere Tochter, die ebenfalls an der Schule unterrichtet.) Wir verabschieden uns und fahren direkt zur Schule, um Frau Lackners älteste Tochter, Cäzilia Kikelj, zu finden. Wir treffen sie und vereinbaren mit ihr, uns am Nachmittag alle wieder im Haus der Lackners in Aigen zu treffen.

Zuerst jedoch Mittagessen im Gasthaus Fischer – einmal mehr gegrilltes Fleisch und Salat. Apu versucht sich am ungarischen Gulasch, das er jedoch nicht ganz so gut findet wie das meiner Mutter. Wir nutzen die Pause, um zu verdauen – nicht nur das Mittagessen, sondern auch das Gesehene und die Eindrücke der Leute, die wir kennen gelernt haben.




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