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MITTWOCH 15. JUNI

Morgens, Frühstück auf der Terrasse von Frau Schäfmann. Die Terrasse war mit Spalieren voller Wein bedeckt. Ich sog den Anblick in mich auf. Schaute man von der Terrasse Richtung Osten, sah man das Tal in der Morgensonne liegen. Eine wunderschöne Aussicht. All die verschiedenen Grüntöne, die Farben der unterschiedlichen Vegetation. Die regelmäßigen Reihen der Weinstöcke machten den Anblick noch ansprechender. Dazwischen ein erdfarbenes Stück Land, gespickt mit strohgelben Stoppeln von der letzten Ernte. Eine sanft geschwungene Wiese, Berge am Horizont, dahinter vermutlich ein weiteres Tal. Was für ein idyllischer Ort. Ich musste an Beethovens 6. Symphonie, die Pastorale, denken. Beethovens Musik beschreibt eine wunderschöne Szenerie mit üppigen Wiesen. Ein Schafhirte hütet seine Herde, um ihn herum singen Vögel. Dann bricht ein Sturm los, ein sommerlicher Regenguss mit Blitz und Donner. Danach kehren wieder Ruhe und ein erquickender Frieden ein. Auch Sankt Anna und seine Umgebung lagen an einem friedlichen Ort in einer wunderschönen Landschaft, bis der Sturm in Form des Krieges zu wüten begann. Ich war im Zentrum dieses Sturms, auf den später wieder Ruhe und Frieden folgen sollten. Im Juni 2005 konnte ich diese Ruhe, diesen Frieden sehen und spüren. Ich sah die Schmetterlinge umherflattern. Ich traf Menschen, deren Großzügigkeit es mir in stürmischen Zeiten erlaubt hatte, die Stille danach zu genießen. Ich hatte das Glück, nach dem Ende des Unwetters siebenundfünfzig äußerst kostbare Jahre mit Anna verbringen zu dürfen. Es gab eine Verbindung zwischen meiner Frau Anna und St. Anna am Aigen. Zitat aus "We Couldn't Cry":


            Sankt Anna am Aigen, ein kleines Dorf. Wurde mein Leben dort gerettet, um Annas      Lebenspartner zu werden?

            
Die Antwort lautet: JA. Nach allem, was ich in der friedlichen Stille dort sah und fühlte, kenne ich die Antwort.

Ich bin mir bewusst, dass die Menschen in St. Anna und in den umliegenden Dörfern in anderer Form unter dem Krieg litten. Der große "Sturm" forderte viele Millionen Menschenleben. Die Nazis, brutale Barbaren, hatten sich in dieser friedlichen Gegend eingenistet und töteten hunderte, wenn nicht tausende ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter. Menschen, die als Kinder Zeugen der Gräueltaten von 1945 wurden, erzählen heute ihre Geschichte der nächsten Generation. Als ich im Juni 2005 in St. Anna war, sah ich das Kriegerdenkmal auf dem Platz vor der Kirche. In der Mitte des Denkmals sind die Namen der Gefallenen des Ersten Weltkriegs aufgelistet. In den Marmor rechts und links davon wurden die Namen jener eingraviert, die während des Zweiten Weltkriegs ihr Leben lassen mussten. Nach einem kurzen Blick auf letztere schätzte ich ihre Zahl auf etwa 130. Die Namen verlorener Ehemänner und Söhne, allesamt jung. Die Einwohnerzahl von St. Anna und Umgebung beträgt ungefähr 1800. Wie hoch war der Anteil der Bevölkerung, die in diesem Krieg sinnlos für Hitler sterben musste? Wie viele Witwen und Waisen und trauernde Eltern blieben zurück?

Mittlerweile kennen wir die genaue Zahl der Opfer, die der Zweite Weltkrieg in den einzelnen Dörfern gefordert hat:

            
                     

                                                                     Tote                        Vermisste


            Aigen                                                 10                                 6


            Klapping                                              8                                  3

           Risola                                                  4                                  3


            Plesch                                                21                               13

           Jamm                                                 22                                14

           Waltra                                                 17                                            


            St. Anna am Aigen gesamt              82                                45




 

Nach dem Krieg rappelten sich die Menschen in St. Anna wieder auf und setzten ihr Leben fort - an einem idyllischen, wunderschönen Ort. Auch Anna und ich wagten einen Neuanfang und gründeten eine Familie. Trotz der alltäglichen Erinnerungen an die Strapazen und Verluste des Holocaust verbrachten wir viele äußerst kostbare Jahre miteinander. Im Jahr 2005 kehrte ich nach St. Anna zurück, an den Ort, wo mein Leben gerettet worden war. Ich traf Menschen, die um nichts weniger großzügig waren als ihre Mütter, denen ich mein Überleben verdanke. Allen voran Bürgermeister Josef Weinhandl und seine Frau.

 

 

Ein dichtes Programm erwartet uns. Nach dem Frühstück gelingt es Frau Weinhandl, der Frau des Bürgermeisters, endlich, uns zu einer kleinen Sightseeingtour zu überreden. Nachdem wir das Antihistaminikum besorgt haben, fahren wir etwa 30 Minuten lang durch die schöne, sanft geschwungene Landschaft, bis wir zur Riegersburg gelangen. Dieses gewaltige Bauwerk aus Ziegeln und Steinen liegt auf der Spitze eines hohen Berges, am Rande eines schroffen Felsens. Aus der Ferne scheint die Burg aus dem Berggipfel zu wachsen. Wir erfahren, dass sie nie erobert wurde, und die Gründe dafür liegen auf der Hand. Die Verteidigungsposition der Burg ist ideal. Jeder Angreifer musste zuerst über steile Hänge auf die Spitze des Berges klettern. War er oben angekommen, musste er auch noch den Burggraben und die schwere Zugbrücke aus Holz überwinden. Ganz wie im Film. 

Aber die Burg ist nur das Vorspiel für den wichtigsten Punkt unseres heutigen Programms. Um 11.30 Uhr sind wir zurück in St. Anna am Aigen, um uns in der Schule noch einmal mit Frau Kikelj, der Tochter von Frau Lackner, zu treffen. Wie bereits erwähnt, unterrichtet sie an der Schule. Eine weitere Lehrerin schließt sich uns an. Apu ist gekommen, um der Schule ein besonderes Geschenk zu machen: "Vandor's Math Exercises", eine Reihe von Lehrbüchern, die mein Vater verfasst hat. 

Als meine Tochter Mollie in der 3. Klasse war, hatte sie Schwierigkeiten in Mathematik. Ich bat Apu, der von Beruf Ingenieur ist, ihr zu helfen. Daraufhin entwickelte er ein Mathematik-Übungsprogramm für die 3. Klasse. In den folgenden Jahren erweiterte Apu dieses Programm, so dass es mittlerweile für Schüler der 1. bis 6. Klasse geeignet ist. Und er gab diese Bücher an die Lehrkräfte verschiedener Schulen in Ventura, Kalifornien, weiter. Wie sich gezeigt hat, ist "Vandor's Math Exercises" ziemlich erfolgreich darin, jungen Menschen die Logik der Mathematik verständlich zu machen. Jetzt, als Teil unseres Besuchs in St. Anna, möchte er das Programm den hiesigen Schülern schenken, als Dank für die Herzensgüte ihrer Großmütter und Großtanten. Dieser Schritt ist sehr wichtig für Apu und die Lehrerinnen nehmen das Material mit großem Interesse und Begeisterung in Empfang.   


 

 

 

Reisevorbereitungen erfordern immer ein gewisses Ausmaß an Arbeit. Man muss seine Reisedokumente in Ordnung bringen und nebenbei überlegt man vielleicht, welches Geschenk oder welches besondere Andenken man den Gastgebern mitbringen könnte. Vor meinen Augen tauchten immer wieder die beiden kurzen Sätze auf: "Sankt Anna am Aigen, ein kleines Dorf. Wurde mein Leben dort gerettet, um Annas Lebenspartner zu werden?" Die Vorbereitungen für unsere Reise nach St. Anna konfrontierten mich mit einem Dilemma. Wenn mein Leben an diesem Ort gerettet worden war, so konnte ein gewöhnliches Geschenk nicht genügen. Es musste schon etwas Besonderes sein.


Ich hatte "Vandor's Math Exercises" als Übungsmaterial entwickelt, um meine Enkeltochter Mollie in der dritten und vierten Klasse in Mathematik zu unterstützen. In der Folge dehnte ich das Programm auf die 1. - 6. Schulstufe aus. Ich arbeite mit den Lehrern zusammen und die Lehrer arbeiten mit den Schülern. Ich verlasse mich auf das Geschick der Pädagogen, gutes Lehrmaterial zum Vorteil der Schüler einzusetzen. Ja, "Vandor's Math Exercises" gilt als exzellentes Übungsprogramm, von dem die Schüler und Schülerinnen nachgewiesenermaßen sehr profitieren.

 "Vandor's Math Exercises" ist mein Werk, die Frucht meiner geistigen Arbeit. Und es bedeutet mir sehr viel. Passend für Österreich habe ich die US-amerikanische Notation durch die deutsche ersetzt. Den Text in englischer Sprache habe ich jedoch beibehalten. Denn die meisten Lehrer hier sprechen Englisch und die Zweitsprache der Schüler ist ebenfalls Englisch.



Ich übergab mein Geschenk der örtlichen Schule, um die Mathematikkenntnisse der Schüler zu fördern. Zwei Lehrerinnen waren dazu bestimmt worden, mein Geschenk in Empfang zu nehmen. Neben ihrer deutschen Muttersprache konnten beide auch Englisch. Doch eine der Lehrerinnen beherrschte die englische Sprache besser als die andere - ihr Name war Cäzilia Kikelj. Cäzilia ist eine der Töchter von Frau Maria Lackner. War es bloßer Zufall oder Schicksal, dass von 14 Lehrern ausgerechnet Frau Kikelj, Maria Lackners Tochter, dazu auserwählt wurde, "Vandor's Math Exercises" im Namen der Schule in Empfang zu nehmen?



            

 

13.00 Uhr. Während des Mittagessens wird mein Vater von den Reportern zweier Zeitungen interviewt. Er erzählt allen, wie die Einwohner von St. Anna am Aigen dazu beitrugen, sein Leben zu retten. 

14.30 Uhr. Wir treffen Frau Dr. Eleonore Lappin, die die Geschichte der Besetzung Österreichs durch die Nazis erforscht. Sie hat bereits seit mehreren Monaten mit Apu via Email korrespondiert. Nun ist sie aus Wien gekommen, um ihn endlich persönlich kennen zu lernen und einige der historischen Stätten gemeinsam mit ihm zu besuchen. Auch Franz Josef Schober schließt sich uns wieder an. Nach dem Mittagessen bringt uns der Bürgermeister zum Lippe-Haus.

 

 




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