Kopfbild
Kapitelauswahl

HINTERGRUND: EIN EIERSPEISBROT

Im Winter 1945 schlich sich mein Vater mehrmals aus dem Lager, um nach Essen zu suchen. Doch eines dieser Abenteuer ist ihm besonders in Erinnerung geblieben.


Es geschah in einem Haus in Aigen, das in dem erwähnten besonderen Baustil erbaut worden war. Im Haus: eine junge Frau, vielleicht 25 Jahre alt, mit hellbraunem Haar. Nicht blond, nicht dunkelbraun. Als mein Vater und sein Kamerad vor ihrer Tür auftauchten, wurden sie rasch eingelassen und erhielten ein Spiegelei oder Rührei mit Brot. Wenn man gewöhnt ist, nichts zu essen zu haben oder einen kostbaren Apfel zu bekommen, dann erinnert man sich an ein Eierspeisbrot als etwas ganz Besonderes. Mein Vater weiß noch, dass sich im Haus ein weiteres, vielleicht 12 Jahre altes Mädchen befand. Ebenfalls mit hellbraunen Haaren. Und es gab einen Mann.


Einen Mann in diesem Haus anzutreffen war etwas sehr Ungewöhnliches, da alle Männer aus der Gegend eingezogen worden waren. Abgesehen von deutschen Lageraufsehern und Soldaten gab es 1945 keine Männer in St. Anna. Sie kämpften alle als Soldaten an der Front. Außerhalb des alten Schulgebäudes, gegenüber der Kirche, steht ein Mahnmal für die im Krieg gefallenen Männer aus der Gegend. Sie kämpften für die Deutschen, aber sie hatten keine andere Wahl.


War es möglich, dieses besondere Haus ausfindig zu machen, das Haus, in dem eine freundliche junge Frau meinen Vater mit einem Eierspeisbrot versorgt hatte? War es möglich, ein einzelnes Haus ausfindig zu machen, in dem eine Frau jüdischen Männern geholfen hatte, während ihre eigenen Männer in der Ferne auf Seiten der Nazis kämpften? Existierte es noch, nach sechzig Jahren? Und würde dort noch jemand leben, bei dem wir uns bedanken konnten?

 




© 2008-2016 Pavelhaus

kontakt | kontakt