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EINE UNGEWÖHNLICHE BEZIEHUNG

Gleich nach meiner Rückkehr von St. Anna nach Ventura schrieb ich einen Brief an Frau Weinhandl, die Frau des Bürgermeisters. In Auszügen schrieb ich folgendes:

Als ich letzten Juni in St. Anna war, bemerkten Sie – am Bahnhof von Fehring –, dass ich Sie beeindruckt hätte. Sie sagten, dass es sich anfühle, als ob Ron zu Ihrem Bruder, ich jedoch zu Ihrem Großvater geworden wäre. Ich bin nicht davor gefeit, beeindruckt zu sein; im Gegenteil, ich war meinerseits sehr bewegt. Unter Ihrer Anleitung konnte ich eine noch lebende Person finden – Maria Lackner – die Mitglied einer besonderen Gruppe Menschen war, die das Leben von Juden, inklusive meines, rettete. Mit Ihnen als meine Gastgeberin, Übersetzerin, Reise-führerin bewiesen Sie, dass sich Ihre Großzügigkeit mit der dieser Gruppe durchaus messen konnte. Ausgehend von einer Unterhaltung, die ich mit einigen wenigen Leuten, die ich während der kurzen Woche, die ich in St. Anna verbracht hatte, führen durfte, stellte ich fest, dass sich die Großzügigkeit stets von der Mutter auf die Kinder weitervererbte und Sie und Ihr Mann erhielten eine ausreichende Dosis davon. Weiters fühlte ich, dass Sie und Ihr Mann so etwas wie neue Mitglieder meiner Familie geworden sind.

Elisabeth Weinhandl und ich pflegen regelmäßige Korrespondenz. Nachdem ich von der Reise nach Österreich nach Amerika zurückgekehrt war, wollte ich zu allererst meine erste Urenkelin sehen und auch an ihrem Namensgebungsfest teilnehmen. Elisabeth Weinhandl fragte mich per E-Mail, wie die Feierlichkeiten verlaufen seien. Ich antwortete ihr, dass sie etwa 20 Minuten gedauert hätten. Paula, eine der frischgebackenen Großmütter weinte während der gesamten 20 Minuten und fand in ihrem Mann Ferenc eine Schulter zum Ausweinen. Ich wischte 20 Minuten meine Brille ab, denn meine Schulter zum Ausweinen ist nicht mehr hier.

Sie [Elisabeth Weinhandl, Anm.] schreibt über ihren Alltag. Wie das extrem heiße Wetter der Schwarzbeerernte schade. Sie beklagt sich, dass zu viel Regen die Holunderbeerernte zerstören könnte. Sie schreibt, dass sie wieder mit dem Chorsingen begonnen habe, nachdem sich die Schmerzen in ihren Stimmbändern wieder gebessert hätten. Sie schreibt über die Holunderbeerernte und die Präsentation des Holunderbeersaftes. Sie schreibt über ihr Familienleben und gelegentliche Krankheiten, eben wie Familienmitglieder Neuigkeiten austauschen. Wir haben ihren Wochenendausflug in die ungarische Stadt Pecs besprochen. Und natürlich hatten wir einen längeren E-Mailaustausch über ihren bevorstehenden Ausflug nach Budapest, dessen Höhepunkt ein Besuch der Operette „Die Csardasfürstin“ von Emmerich Kalman darstellte.

Annas Eltern und Großeltern summten auch immer die Melodien der „Csardasfürstin“. Auch wenn sie im Burgenland waren und eine Aufführung von Verdis  Oper „Nabucco“ unter freiem Himmel genossen.

Seitdem spiele ich regelmäßig auf meiner Harfe eine Darbietung des „Chores der Gefangenen“ um damit die Patienten der onkologischen Klinik zu erfreuen. Ich berichte über wichtige Ereignisse meine Familie betreffend, deswegen auch über meine ehrenamtliche Tätigkeit an der onkologischen Klinik.

Ich kenne die Namen aller Mitglieder ihrer [E. Weinhandel, Anm.] Familie. Im Gegenzug kennt auch sie meine engsten Familienmitglieder namentlich.
Seit meiner Rückkehr aus St. Anna tauschten wir Geschenke aus, ebenso Feiertagsgrüße. Sie hilft mir noch immer, Informationen, die mir noch fehlen zu sammeln, um damit meine Erinnerung zu vervollständigen. Ich hoffe, dass wir beide noch lange diese neue Freundschaft genießen können.

Ich möchte diese neue Vertrautheit in ein besonderes Kaleidoskop geben und sie betrachten:
Die männlichen Erwachsenen des Dorfes waren fern der Heimat, führten Hitlers Krieg.

Nahrungsmittel waren knapp. Und von dem Wenigen, das sie hatten, gaben mir die Frauen des Dorfes Nahrungsmittel, die ich während meiner Abstecher über den Zaun des Lagers ins Dorf erbat. Diese Frauen riskierten ihr Leben und das ihrer Familien, um mich mit dem Lebensnotwendigsten zu versorgen. Diese Frauen gehörten der Großelterngeneration der Familie Weinhandl an. Deshalb haben Elisabeth Weinhandl und ihr Mann, der Bürgermeister, ihre Familiengeschichte erforscht.

Betrachten wir die Beziehung zwischen Maria Lackner und mir durch dasselbe Kaleidoskop:
Maria Lackner war damals erst 25 Jahre alt. Sie behandelte mich besonders gut, obwohl sie sich und ihre gesamte Familie dadurch in Gefahr brachte. Und seit ihren guten Taten sehnte sie sich danach, jemanden zu treffen, dem sie damals helfen konnte. Sie hatte trotz der guten Taten ihr ganzes Leben ein schlechtes Gewissen, dass sie nicht genug getan hätte. Ich war einer derjenigen, denen sie Essen gegeben hatte. Indem ich erschien konnten ihre beiden Töchter, Maria und Cäcilia, etwas von der Last, die ihre Mutter auf ihren Schultern trug, von ihr nehmen. Ich bin auch mit der Familie Lackner in engem Kontakt.

Diese Verbundenheit wird auch im bewegenden Abschied zwischen Elisabeth Weinhandl, Ron und mir am Bahnhof von Fehring sowie im Haus der Familie Schäffmann zwischen Cäcilia und mir deutlich.




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