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DAS LIPPE HAUS

St. Anna am Aigen ist kein besonders großer Ort. Weniger als zehn Minuten genügen, um von einem Ende des Dorfes zum anderen zu spazieren. Wie bereits erwähnt, gibt es im Ort ein Postamt, eine Bank, eine Polizeidienststelle und das Lippe-Haus. Seit Generationen schon betreibt die Familie Lippe ein Geschäft für Lebensmittel, Textilwaren (Bekleidung, Wäsche), Haushaltswaren, Baustoffe und Gartenbedarf. Alles in allem handelt es sich um ein modernes Warenhaus.



Bürgermeister Weinhandl geht ins Haus und kommt mit Herrn Lippe zurück, dem Enkel jenes Mannes, der im Jahr 1945 Eigentümer des Geschäfts war. Mein Vater beginnt, die Form des Gebäudes zu beschreiben, in dem er untergebracht war.
 
 

Aus seinen Erinnerungen sticht besonders der Maschendrahtzaun hervor, der das Gelände umgab und dabei eine ungewöhnliche Form bildete, denn das Anwesen war weder exakt quadratisch noch rechteckig. Während mein Vater den Zaun beschreibt, beginnt Herr Lippe zustimmend zu nicken und "ja, ja" zu sagen. Schnell wird klar, dass das vor zwei Jahren niedergebrannte Gebäude, das die Familie Lippe als Warenlager benutzte, der Ort war, an dem mein Vater einquartiert war. Offensichtlich hatten die Deutschen das Gebäude mit seinen großen offenen Räumen als Lager requiriert. 

Nach Erläuterung aller Einzelheiten ist sich mein Vater sicher, dass es sich um den gesuchten Ort handelt. Das ist wichtig, denn wir sind gerade dabei, die lokale Geschichte umzuschreiben. Die Bewohner der Gemeinde wissen, dass im alten Schulhaus Zwangsarbeiter gefangen gehalten wurden. Sie wissen auch, dass in einem Gebäude einige Türen weiter (an dessen Stelle heute ein glänzender moderner Bürokomplex steht) ebenfalls Zwangsarbeiter untergebracht waren. Was sie aber bislang nicht wussten, ist die Tatsache, dass auch das Lippe-Haus als Lager diente. Letzteres befindet sich nur wenige Häuser von der alten Schule entfernt in derselben Straße. Nun schließt sich der Kreis: In allen drei Gebäuden waren Zwangsarbeiter einquartiert! Das Schulhaus fungierte als Hauptquartier, die Schlafstätte meines Vaters jedoch befand sich im Lagerhaus der Familie Lippe. Der Hof des Lippe-Anwesens war groß genug, um 150 Männer antreten zu lassen. Der Zaun mit seinem großen Doppelflügeltor zum Be- und Entladen von Pferdefuhrwerken ist jener Maschendrahtzaun, über den mein Vater und sein Kamerad kletterten, wenn sie sich auf der Suche nach Lebensmitteln aus dem Lager schlichen. Das Rätsel ist gelöst! Herr Lippe erklärt sich bereit, nach alten Fotos zu suchen, und wir versprechen, am Freitagvormittag wiederzukommen. 


 

 

  

Halten wir kurz inne, um diese Sache näher zu erläutern:

Die erste Gruppe ungarisch-jüdischer Zwangsarbeiter war im Gebäude der alten Schule untergebracht. Die Menschen erinnerten sich im allgemeinen daran, weil ihre Kinder nicht zum Unterricht in die Schule gingen. Die zweite Gruppe jüdischer Zwangsarbeiter befand sich im Kino, das auch eine Bühne für Live-Aufführungen hatte. Es blieb den Leuten im Gedächtnis, dass in dieser Zeit keine Filme gezeigt wurden und keine Theatervorstellungen stattfanden. Doch wer erinnert sich schon daran, dass jüdische Zwangsarbeiter zwei Monate lang in einem Lagerhaus lebten? Die einzigen, die davon hätten wissen können, waren jene, die Lebensmittelpakete über den Zaun warfen. Doch diese mutigen Menschen sind nicht mehr am Leben.

Am Abend besuchen wir alle gemeinsam eine Buschenschänke - ein Lokal, in dem Weine verkostet werden und wo es auch etwas zu essen gibt. Wir probieren verschiedene Flaschen mit exzellentem Wein aus der Gegend und zahlreiche Toasts werden ausgebracht.

 




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