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NACHWORT

Während der ersten beiden Aprilwochen des Jahres 2007 waren Elisabeth, Josef und Stefanie Weinhandl zu Gast bei mir in Ventura. In diesen kurzen vierzehn Tagen wurde uns klar, dass wir eine außergewöhnlich schöne Zeit miteinander verbrachten. Das lag in erster Linie daran, dass wir in weniger als zwei Jahren - durch unsere Korrespondenz - eine Beziehung entwickelt hatten, die von gegenseitigem Respekt und Liebe gekennzeichnet ist. Wenn ich heute zurückblicke und mir das Bild "Händeschütteln mit dem Bürgermeister" nochmals ansehe, erkenne ich bereits die ersten Anzeichen einer Freundschaft; man kann es an unseren Gesichtern ablesen. Am nächsten Tag, nach dem Händedruck mit dem Bürgermeister, sagte Elisabeth Weinhandl, als sie sich auf dem Fehringer Bahnhof von Ron und mir verabschiedete, Ron sei wie ein Bruder für sie geworden und ich sei wie ein Großvater für sie. Ich denke, das kam daher, dass sie in den fünf kurzen Tagen, die wir in St. Anna verbracht hatten, von meinen Hochgefühlen angesteckt worden war. Und die Beziehung zwischen den Weinhandls und mir begann zu wachsen.

Aber gehen wir in der Zeit nun ein wenig zurück. Es folgt eine gekürzte Version meiner Ankunft in Budapest im April 1945 (aus der Originalbeschreibung in "We Couldn't Cry"):   

Unmittelbar nach meiner Rückkehr nach Budapest fuhr ich nach Rákospalota. Ich war auf dem Weg nach Hause, nach meinem Zuhause, das ich hatte verlassen müssen, als der Einberufungsbefehl kam. Ich suchte den Ort auf, an dem meine Eltern, meine Schwester und ich zuvor gelebt und den wir unser ZUHAUSE genannt hatten. Doch dort lebten nun fremde Menschen. Ich läutete an der Wohnung unserer Nachbarn und bat um Auskunft. Die Familie Sas empfing mich mit offenen Armen. Sie gaben mir zu essen und bereiteten in einem großen, schüsselförmigen Waschbecken ein Bad für mich vor. Ohne Umschweife zog ich mich aus und stieg in das Bad. Frau Sas wusch mich, wie eine Hebamme ein neugeborenes Kind wäscht. Während ich badete, wurden die Kleider, die ich bei meiner Ankunft getragen hatte, sowie alle anderen brennbaren Habseligkeiten, die ich mitgebracht hatte, verbrannt. Nach dem Bad zeigte mir Frau Sas einen Wäschekorb mit Kleidung. Mir wurde klar, dass dies meine Kleider waren und dass sie von meiner Mutter zusammengelegt worden waren. Ich sah es an der besonderen Art, mit der sie die frische Wäsche zu falten pflegte. Eine kurze Erklärung folgte, in der ich alles erfuhr, was die Familie Sas über das Schicksal und den Verbleib meiner Familie wusste.


Das war der Beginn meines Lebens in Freiheit.

Viktor E. Frankl schreibt über seine Erfahrungen in diversen Konzentrationslagern aus der Sicht eines Psychiaters. Er vertritt die Ansicht, dass jeder Gefangene nach seiner physischen Befreiung auch eine emotionale Befreiung erleben sollte. Mit Hilfe seiner Schriften und dank meiner eigenen Erfahrungen bin ich in der Lage, meinen Gedanken wie folgt Ausdruck zu verleihen:

In "We Couldn't Cry" wie auch in der vorliegenden Zusammenfassung habe ich geschrieben, dass Anna und ich in den siebenundfünfzig Jahren, die wir miteinander verbringen durften, täglich über unser Leben während des Holocaust sprachen, über unsere Verluste und unsere Erfahrungen in den Lagern. Wir heirateten etwa ein Jahr nach unserer Befreiung. Zwei Jahre nach Annas Tod kehrte ich nach St. Anna zurück, an den Ort, an dem sich Anfang 1945 mein Lager befunden hatte. Also ungefähr sechzig Jahre nach meiner Befreiung.

            Sechzig Jahre lang hatte ich ein Leben in Freiheit geführt, ohne wirklich frei zu sein. Die Rote Armee hatte mich physisch befreit. Sie hatte die Ketten jener Fußfesseln gelöst, die mir die Nazis angelegt hatten. Doch die losen Ketten sollte ich sechzig Jahre lang mit mir herumschleppen.

Während meines Besuchs in St. Anna zeigte mir Bürgermeister Josef Weinhandl, wo das Lager gewesen war, in dem ich gelebt hatte. Er brachte mich an den Ort, an dem ich Panzergräben hatte ausheben müssen. Er führte mich auch an die Stelle, wo sich die Krankenbaracke befunden hatte, wo ich den Schüssen aus dem deutschen Maschinengewehr entgegengesehen und die letzten 4 oder 5 Tage vor unserer Befreiung verbracht hatte. Die Frau des Bürgermeisters, Elisabeth Weinhandl, ermöglichte ein Wiedersehen mit Frau Maria Lackner, die mir im Jahr 1945 lebensrettendes Essen geschenkt hatte.


Sechzig Jahre nach meiner physischen Befreiung ermöglichten mir die Weinhandls damit auch meine emotionale Befreiung. Mit ihrer liebevollen, herzlichen Art schnitten Elisabeth und Josef Weinhandl die Ketten ab und sorgten dafür, dass meine Fesseln von nun an viel leichter zu tragen waren. Seit meiner Rückkehr aus St. Anna hat sich aus dieser Herzlichkeit eine enge und liebevolle Freundschaft entwickelt. 

In "We Couldn't Cry" erinnert sich Anna an ihre Befreiung und schreibt dazu Folgendes:

Nun stellt sich die Frage: Ich bin hier, aber habe ich wirklich überlebt?      Körperlich bin ich hier, aber meine Gedanken kehren immer wieder zu diesen     schrecklichen Erfahrungen zurück. Ich trage diese schrecklichen Erfahrungen    für immer mit mir herum. Jeden Tag kommt die Erinnerung zurück. Und quält   mich.

 Am Tag unserer Ankunft in St. Anna, am Sonntag, dem 12. Juni, hatte ich Zweifel. Sind wir im richtigen Dorf? Sind wir im richtigen Land? Sind wir im richtigen Universum? Oder ist das Ganze nur ein Albtraum? Ein teuflischer Trick? Oder einfach eine Fata Morgana? Die Weinhandls machten all diesen Zweifeln ein Ende. Sie führten mich zu den realen Orten, an denen ich im Jahr 1945 meine albtraumhaften Erfahrungen gemacht hatte. Maria Lackners Hand in meiner Hand war ebenso real. Ihre Tränen vertrieben die Zweifel, die sie selbst gequält hatten, und trugen zu meiner emotionalen Befreiung bei.



Während ich das Foto betrachtete, das Maria Lackner mit Tränen auf den Wangen zeigt, schrieb ich ein Gedicht, um meine Empfindungen in Worte zu fassen. Elisabeth Weinhandl machte sich daran, es ins Deutsche zu übersetzen. Per Email wurde das Gedicht unzählige Male hin- und hergeschickt, bis es seine jetzige Form erhielt. Wir haben es gemeinsam geschaffen. Ich habe so manches englische Wort geändert, um es den deutschen Begriffen anzupassen, und Elisabeth Weinhandl fand neue Begriffe, die dem englischen Text besser entsprachen. SIXTY YEARS LATER/SECHZIG JAHRE SPÄTER ist das gemeinsame Werk zweier Menschen. Danke, Elisabeth! Ich weiß, dass solche Danksagungen gewöhnlich ins Vorwort gehören, aber dies ist ja auch keine gewöhnliche Geschichte. 


Viktor Frankls Worte legen es nahe, dass jemand, der emotionale Befreiung erreichen möchte, professionelle psychiatrische Hilfe in Anspruch nehmen sollte. Meine Hilfe kam jedoch von Laien, die keine professionellen Psychologen sind. Die Weinhandls sind einzigartige, liebevolle und fürsorgliche Menschen aus dem richtigen Teil der Welt. Auch Anna war von liebevollen Menschen umgeben und doch zweifelte sie an ihrer physischen bzw. fehlenden emotionalen Befreiung. Ich habe meine Frage nicht auf diese Art formuliert, ich habe mein Leben einfach gelebt und mir gewisse Fragen im Geheimen gestellt. Die Weinhandls sind in St. Anna/Aigen geboren und aufgewachsen, an jenem Ort, an dem ich als Zwangsarbeiter unmenschlich behandelt worden war. An dem die Nazis eine Tötungsmaschinerie in Gang gesetzt hatten, um jüdisch-ungarische Zwangsarbeiter abzuschlachten. An dem ihre Großeltern das eigene Leben und das ihrer Familien riskierten, um sich den Nazis zu widersetzen, zur Unterstützung und Rettung der Juden. Heute leben sie an einem ruhigen, friedlichen Ort und haben es sich zum Ziel gesetzt, die dunklen Kapitel der Nazi-Zeit und die Auswirkungen der nationalsozialistischen Gräueltaten auf die Menschlichkeit aufzuzeigen. In Anbetracht dieser Tatsachen waren sie geradezu prädestiniert dazu, mich von den Fesseln der Nazis zu befreien. Liebevoll arbeiteten sie Tag für Tag an dieser Befreiung und ich merkte, wie meine Fesseln mit jedem Male lockerer wurden. Liebevoll machte mir Elisabeth Weinhandl klar, dass der 5. April 1945 nicht nur der Tag meiner physischen Befreiung war, sondern dass ich damals auch neu geboren wurde. Als ich mir dieser Tatsache unlängst bewusst wurde, hatte ich das Gefühl, meine Fesseln endgültig verloren zu haben. Vielleicht sind sie auch nur so leicht geworden, dass ich sie kaum noch spüre. Werde ich jemals vollkommen frei sein?


Anna trug die Nummer, die ihr in Auschwitz eintätowiert worden war, bis zu ihrem Lebensende. Mein Schicksal ist es, eine - mittlerweile - weitaus leichtere Last zu tragen. Mein Leben ist freier geworden und das versetzt mich in die Lage, ein "imaginäres Denkmal für Anna zu errichten". Zu diesem Denkmal gehört es, dass ich Musik auf meiner Harfe mache. Dabei spiele ich häufig eine Melodie, die mich an ein bestimmtes Ereignis erinnert, an ein Bild, über das Anna und ich oft gesprochen haben. Es zeigt meine Mutter, wie sie Ende Jänner 1944 an einem Sabbat ihrem Mann und ihren beiden Kindern das Mittagessen serviert, während sie voller Freude der Musik im Radio lauscht. Es handelte sich um Antonin Dvoraks Symphonie Nr. 9 "Aus der Neuen Welt" und die Melodie stammte aus dem Satz "Largo". Diese Musik ist wie ein geschliffener Edelstein und bildet den Kern des Denkmals, das ich zur Erinnerung an Anna errichten möchte. Als "Ehrenamtlicher Mitarbeiter des Jahres" erhielt ich für das Jahr 2007 eine hoch angesehene Auszeichnung der Ventura County Medical Resource Foundation. Die Menschen, die mich für den Preis nominierten, hatten mich - da bin ich mir fast sicher - bei meinen Bemühungen beobachtet und machten mit ihrer Nominierung mein "imaginäres Denkmal" sichtbar.

 




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