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DAS OFFIZIELLE TREFFEN

15.00 Uhr: Wir kehren für das offizielle Treffen zu Frau Lackners Haus zurück. Wieder schließen sich uns der Bürgermeister und seine Frau an. Diesmal sind wir verabredet. Wir werden erwartet. Frau Lackner hat sich ein schönes Kostüm angezogen. Ihre Töchter servieren kunstvoll belegte Brote mit Schinken und Käse. Und man serviert uns selbst gemachten Apfelmost. Das löst eine weitere Erinnerung aus. In dem Haus, in dem mein Vater das Eierspeisbrot erhielt, gab man ihm ebenfalls selbst gemachten Apfelmost zu trinken. Heute, sechzig Jahre später, wird hier noch immer Apfelmost serviert. Noch mehr Gesprächsstoff. Noch mehr Geschichten. Cäzilia, die älteste Tochter von Frau Lackner, dolmetscht nun das meiste. Mein Vater erinnert sich, in eine Veranda des "Eierhauses" geführt worden zu sein. Cäzilia erzählt, dass das Haus einst eine Veranda hatte, in der Zwischenzeit jedoch umgebaut wurde. Noch mehr Erinnerungen: Die junge Frau mit den hellbraunen Haaren. Cäzilia sagt, dass ihre Mutter, die mittlerweile 85jährige Frau Lackner, zum damaligen Zeitpunkt 25 Jahre alt war und hellbraune Haare hatte. Meinem Vater fällt das andere Mädchen ein, damals ein Teenager. Cäzilia erklärt uns, dass mehrere junge Mädchen im Haus waren, die Kusinen der alten Frau Lackner. Eine davon war 12 Jahre alt. Ihr Name: Martha (wir werden sie am nächsten Tag treffen). Und was ist mit dem Mann im Haus? Mein Vater weiß noch, dass er in einem Sessel im Nebenzimmer saß. Und dass er nicht aufstand. Er schien behindert zu sein. Cäzilia erzählt, dass ihr Onkel zu Hause war und sich von einer Wirbelsäulenverletzung erholte, die er sich während des Krieges zugezogen hatte. Er hatte nur ein Bein!

Könnte das der gesuchte Ort sein? Könnte diese freundliche, liebenswürdige 85jährige Dame jene Frau sein, die meinem Vater ein Eierspeisbrot spendierte? Sicher ist es nicht, aber alle Indizien scheinen darauf hinzuweisen. Zu viele Zufälle. Trotzdem, mein Vater ist sich nicht hundertprozentig sicher. 

Sechzig Jahre lang hat Frau Maria Lackner erzählt, wie sie dabei half, die Zwangsarbeiter mit Lebensmitteln zu versorgen. Doch nun enthüllt sie etwas, das uns schockiert: Sie hat sich tatsächlich sechzig Jahre lang schuldig gefühlt! Schuldig dafür, nicht mehr getan zu haben, um den Juden zu helfen!  



           

 

Am Nachmittag wurden mir Fotos von Maria Lackner gezeigt, die aus den Vierzigerjahren stammten. Ich sah Bilder, auf denen sie verschiedene Kleider mit Blumenmuster trug, man konnte ihre hellbraunen Haare erkennen, obwohl die Fotos schwarzweiß waren. Ich erkannte in ihr, irgendwie, die gesuchte junge Frau. Während wir um den Tisch herum saßen, Frau Lackner, ihre beiden Töchter Cäzilia und Mary, Elisabeth Weinhandl, die Frau des Bürgermeisters, Ron mit seiner Videokamera und ich, begann ich, den Zweck meiner Reise zu erklären und erzählte:     

Ich musste schwere Arbeiten verrichten und erhielt nur sehr wenig zu essen. Man enthielt uns die einfachsten lebensnotwendigen Dinge vor. Ich war hungrig. Es war verboten, den Juden zu helfen, und die Einhaltung dieses Gesetzes wurde streng kontrolliert. Aber einige Dorfbewohner ließen sich nicht einschüchtern und widersetzten sich den Vorschriften. Sie stellten ihre hohen moralischen Werte unter Beweis und unterstützten andere Menschen, unterstützten die Juden. Gaben ihnen zu essen. Ich erhielt Nahrung, die mir das Leben rettete. Mit dem Essen wurde mir auch eine Prise Optimismus geschenkt. Ohne diese Lebensmittel bestand meine einzige Perspektive darin, zu verhungern, die Frage war nur, wann mich der Tod ereilen würde. Mit den Lebensmitteln hatte ich das Gefühl, vielleicht überleben zu können.

Wir, die Juden, erhielten Essen von vielen Mitgliedern der Gemeinde, die sich aktiv engagierten, während der Rest der Gemeinde dies stillschweigend billigte, denn niemand wurde an die Behörden verraten. Niemand kam zu Schaden. Dann erzählte Frau Lackner, dass sie die Unterstützung der Gemeinde hatten und wussten, wer die Nazi-Sympathisanten waren, und dass diese darüber im Dunkeln gelassen wurden. Und sie sagte, sie sei eine junge, furchtlose Frau gewesen. Sie hätte nicht an die Folgen gedacht, sondern einfach ihre Rolle gespielt, im Widerstand gegen die deutschen Gesetze, mit reinem Gewissen. Diese Aussage passte perfekt zu meinen Erinnerungen an das Erlebnis, das sich tief in mein Gedächtnis eingegraben hatte. Das zweite oder dritte Haus in der Hauptstraße. Ein bescheidenes Haus auf der linken Straßenseite. Fenster zur Straße hin. Eine schwere, solide, zweiflügelige Tür. Braune Türflügel. Ich klopfte an. Ein junges Mädchen, vielleicht 12 oder 14 Jahre alt, mit hellem Haar, wahrscheinlich nicht blond, sondern in hellem Kastanienbraun, öffnete die Tür. Dahinter eine ältere Schwester, vielleicht zwischen 20 und 23, sie packte mich am Arm und zog mich ins Haus, ebenso Gyuri. Auch sie hatte helle Haare. Sie war ungefähr gleich groß wie ich - vielleicht auch etwas größer oder kleiner. Ich erzählte ihr kurz, warum wir gekommen waren. Sie ging in die Küche und kam bald darauf mit zwei Eierspeisbroten zurück, eine Portion für Gyuri, die andere für mich. Sie bestand darauf, dass wir alles an Ort und Stelle aßen, im Haus, bevor wir wieder gingen. Sie gab uns auch ein Glas Apfelmost und steckte einige Äpfel in unseren Rucksack. (Wir hatten einen Rucksack dabei.) Die junge Frau, die furchtlos und mutig ihre Rolle spielte und mich am Arm packte und ins Haus zog, ebenso Gyuri. Dieser Moment hatte sich auch in ihr Gedächtnis eingebrannt!

Ich fuhr fort und sagte, Maria Lackner sei mit zwei Töchtern belohnt worden, die einen der wertvollsten Berufe für sich gewählt hätten, indem sie kleine Kinder unterrichteten und ihnen Wissen vermittelten. Die Eltern der nächsten Generation vertrauten den beiden Schwestern Cäzilia und Mary ihre Kinder zur Ausbildung und teilweise auch zur Erziehung an. Darauf konnte die Mutter stolz sein!


 Als Frau Lackner den Wunsch äußerte, uns (Ron und mich) noch einmal in ihr Haus einzuladen, setzten ihre Töchter alles daran, das Treffen zu einem Erfolg zu machen. Danke! Und um die Tradition ihrer Mutter fortzusetzen, stand auch diesmal Essen auf dem Tisch. Im Jahr 1945 waren es zwei hastig bereitete Eierspeisbrote und Apfelmost gewesen; diesmal waren es kunstvoll belegte Brote mit Schinken und Käse und Apfelmost. 

Im Haus der Lackners wird seit mehr als sechzig Jahren regelmäßig Apfelmost serviert, das ganze Jahr über.

           

 

Wir erfahren, wie viele Einheimische die Juden unterstützten, indem sie ihnen zu essen gaben. Wir hören von einer Frau, die Lebensmittel über den Zaun des Lagergeländes warf, in dem mein Vater untergebracht war. Einmal wurde sie von den Deutschen dabei erwischt und mit dem Tod bedroht, sollte sie dasselbe noch einmal wagen. Hat sie das abgehalten? Nicht direkt. Sie warf zwar keine Lebensmittel mehr über den Zaun. Aber sie hinterließ sie im Gebüsch der Umgebung, wo sie die Zwangsarbeiter finden konnten. Eine andere Frau pflegte täglich ihr Haus zu verlassen und in den Ort zu gehen - mit zwei kleinen Brotlaiben unter den Achseln. Für die Zwangsarbeiter. Wir erfahren weiters, dass es in der lokalen Bevölkerung Nazi-Sympathisanten gab. Das macht diese Verschwörung zur Unterstützung der Juden noch erstaunlicher, denn die Beteiligten mussten ihr Tun nicht nur vor den Nazis geheim halten, sondern auch vor ihren Nachbarn. In einem Gespräch mit der Historikerin Dr. Eleonore Lappin werden wir später die Theorie aufstellen, dass der örtliche Priester in dieser Verschwörung eine gewisse Rolle gespielt haben könnte, vielleicht, indem er die Leute organisierte. 

In der Gemeinde St. Anna am Aigen und in den angrenzenden Dörfern leben äußerst fromme Katholiken. Nun ist bekannt, dass viele katholische Priester den Juden NICHT wohlgesinnt waren. Tatsächlich kollaborierten einige offen mit den Nazis, während andere die Gräueltaten einfach wissentlich ignorierten. Aber vielleicht predigte der Priester in St. Anna höhere moralische Werte. Dass jedes Leben heilig ist, auch das der Juden. Wir versuchten, der lokalen Kirche einen Besuch abzustatten, doch diese wurde gerade renoviert. Welche Rolle spielte der örtliche Priester bei den Heldentaten dieser Frauen? Leider blieb diese Frage ungeklärt.  


           

 

Während wir die Vergangenheit aufleben ließen und uns an den köstlichen Erfrischungen labten, kam Bürgermeister Weinhandl. Er war über unser Programm stets auf dem Laufenden. Während er seinen offiziellen Pflichten als Bürgermeister der Marktgemeinde nachging, wusste er stets, wo wir uns gerade aufhielten. Dank dieser Informationen konnte er seine Zeit entsprechend einteilen, um uns zu treffen. Und er fand uns stets, ohne uns suchen zu müssen. 



 

 

Da ist noch die ungelöste Frage nach dem Lager, in dem mein Vater in St. Anna untergebracht war. Während des Gesprächs beginnt Apu, auf einem kleinen Stück Papier eine Skizze des Lagergeländes zu entwerfen. Das Gebäude, das er zeichnet, ist L-förmig und einstöckig. Große Räume. Großer Hof, wo sich die Zwangsarbeiter versammeln konnten. Mehrere Nebengebäude. Alle von einem Maschendrahtzaun umgeben. Der Umzäunung kommt besondere Bedeutung zu, denn sie ist weder quadratisch noch rechteckig, sondern verläuft unregelmäßig rund um das Gelände. Bürgermeister Weinhandl und Frau Lackner beginnen in deutscher Sprache angeregt zu diskutieren. Nach einigen Minuten übersetzt Cäzilia. Die beiden glauben, dass Apus Zeichnung das alte Lippe-Lagerhaus darstellt (das vor zwei Jahren teilweise abgebrannt ist). Wir werden also dem Lippe-Haus demnächst einen Besuch abstatten müssen. Wir verabschieden uns von Frau Lackner und ihren Töchtern und machen uns auf die kurze Fahrt zurück nach St. Anna. Ein weiterer, gelinde gesagt, ereignisreicher Tag ist vergangen. 



           

 

 Auf dem obersten Blatt eines Briefpapierstapels fertigte ich eine kurze Skizze an, etwa halb so groß wie eine Postkarte. Der Bürgermeister erkannte darin sofort das alte Lippe-Lagerhaus. Bevor wir St. Anna verließen, um in die USA zurückzureisen, schenkte mir Bürgermeister Weinhandl eine CD mit digitalisierten Fotos (und damit ein weiteres Stück meiner emotionalen Befreiung). Sie zeigten alte Aufnahmen von St. Anna und Umgebung. Nach unserer Rückkehr spielte ich Sherlock Holmes und studierte die Bilder ausgiebig, und ich stieß auf ein äußerst interessantes Foto. Darauf ist die Silhouette des Dorfzentrums abgebildet, mit Blick nach Westen, vom Tal östlich der Ortschaft aus gesehen. Neben der Kirche zeigt das Foto in nördlicher Richtung etwa zehn Häuser, darunter das alte Lippe-Haus. Der rückwärtige Zaun ist eindeutig zu sehen, etwa in der ursprünglichen Länge von 12 Metern, mit einem Nebengebäude des Nachbarn, der im Süden an das umzäunte Gelände angrenzt.


 

 

 

 

 

3. Der Maschendrahtzaun an der Ostseite des Lippe-Anwesens

 

Auch wenn ich weiterhin davon sprach, im Schulgebäude einquartiert gewesen zu sein, so bestätigte mich dieses Bild doch.

 




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