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Anfang Jänner 2005 schrieb ich an den Bürgermeister bzw. an den Gemeinderat von Sankt Anna am Aigen, um mich für die Lebensmittel zu bedanken, die ich und meine Mitgefangenen von den Dorfbewohnern erhalten hatten.

Bürgermeister Josef Weinhandl antwortete mir mit einem herzlichen Schreiben. Daraus ging hervor, dass am 30. Jänner 2005 auf dem Kirchplatz des Dorfes eine neue mobile Gedenkskulptur enthüllt werden sollte. Diese Statue und ihre feierliche Enthüllung samt Gedenkgottesdienst waren dem Andenken an die ermordeten ungarisch-jüdischen Zwangsarbeiter gewidmet, die kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs in der Gemeinde und ihrer Umgebung von SS-Leuten umgebracht worden waren. Was für ein Zufall! Mein Schreiben traf 10 Tage vor dem Gedenkgottesdienst in der Gemeinde ein. Es sollte der Beginn einer regen Korrespondenz werden. Höhepunkt war meine Rückkehr nach Sankt Anna am Aigen, um den Bewohnern der Marktgemeinde und der umliegenden Dörfer persönlich meinen Dank für die mutige humanitäre Unterstützung der ungarisch-jüdischen Zwangsarbeiter (einschließlich meiner Person) auszusprechen.

Sankt Anna am Aigen liegt im Südosten Österreichs. Im Jahr 1945 waren St. Anna/Aigen und die umliegenden kleinen Dörfer – Aigen, Klapping, Plesch, Risola, Jamm, Waltra – unabhängige Ortschaften mit einer Bevölkerung zwischen 80 und 450 Personen, je nach Größe. Heute gehören sie alle zur Marktgemeinde Sankt Anna am Aigen und deren Bevölkerung beläuft sich auf etwa 2000 Personen. Die Kirche, die Gemeindeverwaltung, die Polizei und die Freiwillige Feuerwehr befinden sich ebenso in St. Anna am Aigen wie die Volks- und Hauptschule, die Bank, das Postamt, ein Kaufhaus, eine Arztpraxis sowie weitere Geschäfte. Die Kirche liegt am südlichen, das Schulgelände am nördlichen Rand des Ortes. Die Entfernung zwischen den beiden Plätzen (weniger als 2 km) kann in einem gemütlichen Spaziergang von zehn Minuten zurückgelegt werden.

Bürgermeister Josef Weinhandl leitet seine Gemeinde tüchtig und erfolgreich in die richtige Richtung. Die Menschen mögen ihn und haben ihn mit seiner Wiederwahl belohnt. Er züchtet Holunderbeeren und ist darüber hinaus auch ein zertifizierter Weinbauer. Er ist ungefähr im selben Alter wie mein Sohn Ron, muss also Mitte der Fünfzigerjahre auf die Welt gekommen sein. Mit anderen Worten, Josef Weinhandl wurde ungefähr zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs geboren. Er ist leidenschaftlich daran interessiert, die Wahrheit über die Beteiligung seiner Gemeinde an den Ereignissen vor sechzig Jahren aufzudecken. Das Oberkommando der Nazis plante damals den Bau von Befestigungsanlagen, um die herannahende Rote Armee aufzuhalten. Ein Abschnitt dieser Befestigungsanlagen sollte im Südosten Österreichs errichtet werden, und zwar auf einer Länge von 12 – 13 Kilometern zwischen St. Anna und Radkersburg. Dort wurden 2.500 – 3.000 jüdische Zwangsarbeiter aus Ungarn für die Arbeit eingesetzt. Ich war einer von ihnen. Auch die lokale Bevölkerung musste bei dieser schweren Arbeit mit anpacken. Junge und nicht mehr ganz so Junge wurden zur Verrichtung von Arbeiten eingeteilt. In diesem Bereich wurden 800 bis 1000 besonders brutale SS-Soldaten auf die Juden losgelassen. Sie ermordeten hunderte meiner Kameraden. Zehn- bis zwölfjährige Kinder aus den umliegenden Dörfern wurden Zeugen einiger dieser Gräueltaten.

Der Bürgermeister setzt alles daran, das damals Vorgefallene an die Öffentlichkeit zu bringen. Er organisierte auch den Gedenkgottesdienst am 30. Jänner. Dieser wurde auf dem Platz vor der Kirche abgehalten und von etwa 250 Menschen besucht, was einen ansehnlichen Teil der Gesamtbevölkerung darstellt. „Mobiles Erinnern“, eine dem Andenken an die ermordeten ungarisch-jüdischen Zwangsarbeiter gewidmete, mobile Gedenkskulptur, wurde von dem Künstler Christian Gmeiner geschaffen und in St. Anna am Aigen erstmals vorgestellt. Mehrere Würdenträger und Zeugen hielten Ansprachen. Die örtliche Blasmusikkapelle sorgte für die musikalische Umrahmung. Dieser Gedenkgottesdienst verursachte einiges an Betroffenheit und rief alte Erinnerungen wach.

 

 

1. Mobiles Erinnern

 

Die Nazis befahlen den Juden, auf ihrer Kleidung stets sichtbar einen sechszackigen Stern, eine Spitze direkt nach oben zeigend, zu tragen (Davidsstern). Der Künstler Christian Gmeiner schuf eine Skulptur des „Mobilen Erinnerns“, wodurch er durch ein symbolisches Objekt seine Sicht der Dinge vermittelte. Kurz gesagt: eine Stahlplatte als Basis trägt zwei gelbe Dreiecke, welche den im Original sechszackigen Stern in zwei Hälften geteilt darstellen. Der Stern wurde auch um 90 Grad gedreht, sodass die nach oben zeigende Spitze nun zur Seite zeigt. Beim Interpretieren dieser Symbole bekommt man den Eindruck, dass der Künstler die teilweise ausgelöschte jüdische Bevölkerung in einer verkehrten oder zumindest einer seitwärts gedrehten Welt zeigen möchte.

In seiner programmatischen Rede setzte sich Bürgermeister Josef Weinhandl mit Nachdruck für einen ehrlichen Blick auf die historischen Ereignisse ein.

Während der Gedenkfeier meldeten sich auch mehrere Zeugen zu Wort. Im Folgenden sind einige kurze Auszüge dieser Kommentare zu lesen, die aus Archivdaten stammen:

        “Die armen abgemagerten Juden waren im Schulhaus untergebracht. Am Morgen mussten sie zum Graben gehen, wo auch ich kurze Zeit eingesetzt war. Konnte einer aus Kraftlosigkeit nicht mehr weiter, wurde er mit dem Gewehrkolben geschlagen. Es waren Männer und Frauen. Die Bevölkerung durfte ihnen nichts zu essen geben. Man hat uns gedroht, dass wir ins Konzentrationslager kommen, wenn wir den Juden etwas zu essen geben.“

            Alois Ulrich, Altbürgermeister von St. Anna

 

        “Ich habe hinter den Baracken im Höllgraben viele tote Juden liegen gesehen. Darunter auch Menschen, die sich noch gerührt haben. Wir haben die Schüsse gehört, wenn Juden erschossen wurden. Glück hatten die, die gut getroffen wurden und tot waren. Die Erde hat sich über den manchmal erst halb toten Menschen noch tagelang bewegt.“

            Frieda Neubauer

           

        Die Juden lagen im Schulhaus am Boden. Als Klo diente ein Brett im Freien. In das Klo im Haus durfte keiner gehen”

            Maria Baumgartner

 

         Wir waren Buben so im Alter von zwölf Jahren. Wir haben als Buben bei den Arbeiten am Panzergraben und am Laufgraben zugeschaut. Mehrere Kinder haben das gesehen – wir waren ja neugierig. Eine Menge Leute hat da gearbeitet – sicher ein paar hundert.“

            Johann Weidinger

 

Der Bürgermeister legte mein Schreiben Franz Josef Schober, einem lokalen Historiker, vor. Dieser hat bereits einige wissenschaftliche Arbeiten über die Misshandlung von ungarisch-jüdischen Zwangsarbeitern durch die Nazis veröffentlicht. Zurzeit arbeitet er an einem Buch über die Geschichte des Grenzlandes zwischen der Südoststeiermark und Slowenien, in dem auch die Gräueltaten beschrieben werden, die die Nazis im Zweiten Weltkrieg begingen. Unsere Email-Korrespondenz begann Mitte Februar. Es gab Zeiten, in denen wir täglich Emails austauschten. Darin beschrieb ich anschaulich und in allen Einzelheiten die Erfahrungen, die ich 1945 als Zwangsarbeiter in St. Anna gemacht hatte. So identifizierten wir historisch bedeutsame Zeitpunkte und Orte. Neben diesen umfangreichen und detaillierten Texten sandte ich Herrn Schober in Form von Email-Attachments auch geographische Skizzen zu, Pläne der in Frage stehenden Orte, die ich aus dem Gedächtnis gezeichnet hatte. Franz Josef Schober wiederum ließ mir auf dem Postweg Pläne zukommen. Auf diese Art und Weise tauschten wir unsere Erfahrungen aus.

Wir koordinierten unsere Reisepläne und legten den Zeitpunkt auf Mitte Juni 2005 fest. Im Laufe von vier Monaten, in denen wir häufig per Email kommunizierten, wurden zahlreiche historisch wichtige Fragen beantwortet und viele ungeklärte Gedanken ins Reine gebracht. Am Freitag, dem 10. Juni um 12 Uhr mittags, machte ich mich von Ventura aus auf die Reise. Ich begab mich zuerst nach Malibu, wo sich mir mein Sohn Ron anschloss. Er begleitete mich und hielt unsere Erlebnisse sorgfältig in allen Einzelheiten fest. Ich war allein nach Malibu gekommen und verließ die Stadt zu zweit, und zwar kurz nach 14 Uhr in Richtung Los Angeles International Airport. Abflug am Freitag um 17.50 Uhr nach London Heathrow. Ankunft – 8 Zeitzonen später – um 12 Uhr mittags. Umstieg und Weiterflug um 15.05 Uhr nach Wien-Schwechat. Ankunft – 1 Zeitzone später – um 18.15 Uhr Ortszeit. Wir holten unser Gepäck, passierten die Passkontrolle, nahmen uns ein Taxi und erreichten das Hotel kurz vor 20 Uhr. Mittlerweile waren 23 Stunden vergangenen, doch das war die Sache wert!

Da Ron und ich gemeinsam reisten und er die täglichen Ereignisse aufzeichnete, werde ich auch ihn hier zu Wort kommen lassen (durch unterschiedliche Schriftart gekennzeichnet). Das heißt, ich werde meine Geschichte mit seiner Erzählung verflechten, in der Hoffnung, dass dieses komplexe Werk dadurch zusätzlich an Farbe und Kontur gewinnt. Das Niederschreiben bzw. Neuschreiben der wahren Geschichte ist eine komplexe Angelegenheit. Denn die Gefühle, die sich mit lebensrettenden Ereignissen verbinden, sind, daran besteht kein Zweifel, vielschichtig und verwickelt.

 

 


Im Juni 2005 brachen wir, mein Vater Sandor Vandor (ich nenne ihn „Apu“) und ich, zu einer bemerkenswerten Reise auf, hin zu einem Ort, an dem ein bemerkenswerter Teil unserer Familiengeschichte stattgefunden hat: St. Anna am Aigen – eine friedliche, kleine Marktgemeinde in Österreich, nahe der slowenischen Grenze gelegen. Ohne die außergewöhnliche Güte und Großzügigkeit der Bevölkerung von St. Anna hätte Apu den Zweiten Weltkrieg wahrscheinlich nicht überlebt. Mit anderen Worten, ohne die Güte dieser Menschen gäbe es uns heute nicht.

 




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