Kopfbild
Kapitelauswahl

ICH HABE NIE DIE SONNE GESEHEN

In St. Anna am Aigen gibt es eine kleine Dorfschaft, die „Hölle“ heißt. Es ist dies eine verlassene Gegend, nur eine Familie lebte dort abseits der Dörfer. Ihr Haus trug den Namen „Höllpraßl“. Als Kind machte ich mir nie Gedanken darüber, warum dieses Gebiet nahe der damals noch undurchlässigen Grenze diesen Namen trägt. Später habe ich erfahren, dass es in dem Talkessel stets sehr heiß ist, da die Sonne „höllisch“ herunter brennt. Zu dieser naturbezogenen und einsichtigen Namensgebung ist diese Ortschaft im Laufe der jüngsten Geschichte auf andere, schreckliche Weise in der Tat zur Hölle geworden. Wir wissen in der Zwischenzeit, dass es genau an jenem Ort Judenlager und Erschießungen, ja unvorstellbares Leid gegeben hat. Die älteren Menschen unter uns berichten, die Erde über den Massengräbern habe sich noch tagelang nach bewegt. Eine wahre Hölle.

Vor einigen Jahren bin ich einem Mann begegnet, der nach St. Anna am Aigen zurückgekehrt ist. Sein Name ist Sandor Vandor. Er ist einer von wenigen, die das schreckliche Inferno überlebt haben. Sandor Vandor lebt, weil ihm Menschen vor Ort zu essen gegeben haben, so erzählt er. Und von jener Stätte, an der die Sonne naturgemäß besonders intensiv einstrahlt, sagt er: „Ich habe nie die Sonne gesehen.“ So düster war es für ihn dort geworden. Nun kehrt dieser Mann zurück an den Ort einstiger Grausamkeiten, um den Menschen zu danken, die ihm das Leben gerettet haben. Sandor Vandor ist selbst zur Sonne geworden, die Licht und Wärme spendet und so das Dunkel unserer Geschichte auf versöhnliche Weise erhellt.


            Weihbischof Dr. Franz Lackner.




© 2008-2016 Pavelhaus

kontakt | kontakt