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MONTAG 13. JUNI

Was für ein Tag!

 

Nach dem Frühstück im Hause Schäfmann machen Vater und ich einen ruhigen

Spaziergang durch den Ort. Wir schlendern eine Straße entlang, die wohl die Hauptstraße von St.Anna darstellt: Auf einer Länge von nur etwa 400 Metern findet man das Postamt (das zugleich auch als lokales Fernmeldeamt fungiert), eine Bank, eine kleine Polizeidienststelle (die offenbar nur über ein einziges Fahrzeug verfügt), eine Gaststätte, ein Kaufhaus und ein Schuhgeschäft (über das Kaufhaus werden wir später noch mehr erfahren). Schließlich gelangen wir zum alten Schulgebäude, das nur wenige Schritte von der Kirche entfernt ist. Das (mittlerweile leerstehende) Schulhaus besteht aus zwei Stockwerken. Mein Vater hingegen ist sich sicher, dass das Lager, in dem er gefangen gehalten wurde, einstöckig war. Rund um das Schulgebäude befindet sich ein kleiner Hof. Mein Vater fragt, wie hier Tag für Tag 150 Mann Platz zum Antreten und Durchzählen gefunden haben sollen? Die Kirche auf der anderen Straßenseite steht seit vielen hundert Jahren hier. Mit ihrem hochaufragenden Turm ist sie das auffälligste Gebäude des Ortes. Doch in Apus Erinnerungen befand sich die Kirche keineswegs direkt neben dem Lager. Nach weiteren Überlegungen und Beobachtungen erklärt Apu, überzeugt zu sein, dass dies nicht der Platz ist, an dem er untergebracht war. Später können wir einen Blick in das Innere des Schulhauses werfen, was Apu endgültig in seiner Ansicht bestätigt, dass es sich nicht um den gesuchten Ort handelt. Wir stehen vor einem Rätsel: Wo befand sich das Lager, in dem Apu gefangen war?

 

 

 

 

Gestern (Sonntag) Nachmittag, nachdem wir in St. Anna angekommen waren, galt unser erster Besuch dem alten Schulhaus. Ich hatte meine Zweifel und wusste nicht, was ich von der Sache halten sollte. Nach einer erholsamen Nacht und einem ausgiebigen Frühstück spazierten Ron und ich noch einmal zum Schulhof, um einen zweiten Blick darauf zu werfen. Der wichtigste Grund für unseren Besuch in Sankt Anna am Aigen war mein Wunsch, den Einheimischen meinen Dank dafür auszusprechen, dass ihre Mütter und Tanten den deutschen Gesetzen zum Trotz die hungernden ungarisch-jüdischen Zwangsarbeiter, darunter auch mich und meinen Freund und Kameraden Gyuri, mit Essen versorgt hatten. Dass sie mir mit dieser mutigen Haltung das Leben gerettet hatten, indem sie mir ausreichend Lebensmittel zusteckten, so dass ich den Tag der Befreiung erleben durfte.

 

Als Ron und ich das alte Schulgebäude zum zweiten Mal besichtigten, sah ich mir

alles ganz genau an. Meine Erinnerungen waren klar und deutlich. Schließlich war in St. Anna mein Leben gerettet worden. Es leuchtet ein, dass ein so einzigartiges Ereignis – das eigene Überleben – mit allen Einzelheiten im Gedächtnis speichert wird. Ich sah mich also um, doch das Wiedererkennen blieb aus. Die beiden Stockwerke passten einfach nicht. Das Gebäude hatte nicht die L-Form, an die ich mich erinnerte. Auch die umliegende Landschaft war völlig anders beschaffen. Nach relativ kurzer Zeit konnte ich mit Sicherheit sagen, dass dies nicht der Ort meiner Unterbringung gewesen war. Ich war niemals zuvor hier gewesen.

 

St. Anna liegt auf einem kleinen Plateau auf einer Hügelkuppe. Auf der Rückseite

unseres eingezäunten Lagers – Richtung Osten – fiel der Hügel weiter ab. Einmal erwog ich, über die Rückseite des Maschendrahtzaunes zu klettern, der unseren Hof umgab, weil diese vor Blicken weitgehend sicher war. Aber wir verwarfen diese Idee wieder, da wir das Gefühl hatten, der Hang sei zu steil. Hier, im Hinterhof der alten Schule, war anstelle eines Abhangs eine 45 bis 60 cm breite, steinerne Böschungsmauer, die den Hang hielt und etwa 250 cm bis zur nächsten Ebene abfiel. Diese Mauer war keineswegs neu. Ihrem Aussehen nach würde man schätzen, dass sie vor mindestens 100, vielleicht sogar 200 Jahren errichtet worden war. Die Dinge passten nicht zusammen. Sechzig Jahre lang hatte ich in dem Glauben gelebt, wir wären im Schulhaus einquartiert gewesen, in umfunktionierten Klassenzimmern. Doch ich war nie hier gewesen! Wo also befand sich das Gebäude, wo wir gelebt hatten, unser „Zuhause“ in St. Anna?

 

Das Pfarrhaus, das angrenzende Gebäude im Süden des alten Schulhofs, hatte ebenfalls zwei Stockwerke. Zwischen dem Schulhof und dem Pfarrhaus gab es nicht genügend Platz für einen Maschendrahtzaun. Aber gerade dieser spielte in meiner Geschichte die Hauptrolle. Wenn es keinen Zaun gab, worüber waren wir dann geklettert? Somit stand fest, dass ich nie in diesem Gebäude gelebt hatte.

 

 

 

 

Wir kehren zum Haus der Schäfmanns zurück. Es ist kurz vor 9 Uhr morgens -- Rushhour in St. Anna am Aigen. Doch es gibt keinen Verkehr. Nur ab und zu fährt ein Auto oder Lieferwagen vorbei. Was für ein ruhiger und friedlicher Ort.

 

Während unseres Spaziergangs sehen wir keine Menschenseele. Doch ganz offensichtlich sieht man uns. Denn später, als wir von der Frau des Bürgermeisters abgeholt werden, fragt uns Frau Weinhandl, wie uns denn der Ausflug gefallen habe! Irgendwie hat sich die Nachricht, dass zwei Fremde durch den Ort wandern, innerhalb von wenigen Minuten, um nicht zu sagen Sekunden, bis zu ihr herumgesprochen. So ist das in einem kleinen Ort, nichts bleibt geheim. Meinem Vater wird klar, dass die Dorfbewohner ihn und seinen Kameraden bemerkt haben mussten, als sie sich auf der Suche nach Essen aus dem Lager schlichen. Doch keiner verriet sie! Die Dorfbewohner waren voll informiert, hielten die Sache aber vor den Nazi-Sympathisanten geheim.

 

 

 

 

Der Bürgermeister legte das Tagesprogramm fest. Als Kenner der lokalen Gegebenheiten organisierte er den Ablauf sehr geschickt. Der erste Programmpunkt bestand in einem Besuch in der örtlichen Volks- und Hauptschule. Ich hatte ursprünglich geplant, vor dem Gemeinderat aufzutreten und mich während der Gemeinderatssitzung an die gewählten Vertreter der örtlichen Bevölkerung zu wenden. Ich wollte ihnen für die Wohltaten danken, die die Menschen hier meinen Kameraden und mir im Jahr 1945 hatten angedeihen lassen. Doch der Bürgermeister hatte sich eine andere tolle Sache für mich ausgedacht: Ich sollte mehrere Schulklassen der Hauptschule besuchen und den Schülern während des Geschichtsunterrichts von meinen Erfahrungen erzählen. Eine wirklich überzeugende, brillante Idee!

 

 

 

9 Uhr. Man bringt uns zur Hauptschule, wo wir auf den Bürgermeister treffen. Wir lernen den Direktor der Schule sowie vier Lehrer kennen, die Englisch sprechen. Sie zeigen uns eine von den Schülern gestaltete Arbeit, die auf einer Tafel stolz die Geschichte von Sandor Vandor erzählt. Als wir ankommen, höre ich einige Kinder flüstern: „Das muss Sandor Vandor sein!“ Mein Vater als Rockstar! Sie wissen offensichtlich genau, wer er ist. Wir werden wie Ehrengäste behandelt. Apu hält vor zwei Schulklassen der 8. Schulstufe eine Rede. Die Schüler sind 14 Jahre alt, gleich alt wie mein Sohn Jacob, und nur 5 Jahre jünger als Apu zu der Zeit, als er hier gefangen war. Die Kinder hören aufmerksam und höflich zu und stellen gute Fragen. Wir treffen eine Lehrerin, deren Mutter 85 Jahre alt ist. Im Jahr 1945 war Frau Maria Lackner 25 und sie kann sich daran erinnern, den Zwangsarbeitern Brot und Äpfel geschenkt zu haben. Ihre Geschichte ist, neben der meines Vaters, ebenfalls auf der Tafel dargestellt. Wir hoffen, sie kennen lernen zu können.

 

 

 

 

Wir fuhren also zur Schule, zur „neuen“ Schule. Die Anlage ist sehr groß und scheint weit über den Bedarf eines kleinen Dorfes hinauszugehen. Der Eingang befindet sich in der Mitte zwischen den zwei Gebäudeflügeln. Die Verwaltungsbüros sind ebenfalls in der Mitte angesiedelt. Rechter Hand befinden sich die Korridore und Klassenzimmer der Volksschule (1. – 4. Klasse). Die Korridore und Klassenzimmer der Hauptschule (in den USA 4. – 8. Schulstufe, hier 1. – 4. Klasse Hauptschule) liegen im linken Flügel des Gebäudes. Überall auf dem Schulgelände fallen Sauberkeit und Ordnung ins Auge. In einer solchen Umgebung zu lernen muss ein wahres Vergnügen sein.

 

Zu Beginn wurden wir mit den Direktoren und Lehrern bekannt gemacht. Es gibt hier übrigens zwei Direktoren mit zwei Lehrkörpern. Ein Lehrkörper ist für die Volksschule, der andere für die Hauptschule zuständig. Man wusste von unserem Aufenthalt im Ort und auch, warum wir gekommen waren. Unterstützt von ihren Lehrern hatten die Schüler Vorbereitungen getroffen, um uns willkommen zu heißen. Sie hatten im Gang des Hauptschulflügels, der die Klassenzimmer miteinander verbindet, eine Ausstellung mit drei großen Staffeleien aufgebaut, die von meinem Besuch und den dazugehörigen historischen Tatsachen handelte. Gemeinsam mit Lehrern und Schülern inspizierten wir die Ausstellung in überschaubaren Kleingruppen. Kurze Zeit später hielt ich im Rahmen des Geschichtsunterrichts vor zwei verschiedenen Klassen der 8. Schulstufe meine „Dankesrede“ (Alter der Schüler: 14 Jahre). In jeder der beiden Klassen waren etwa 20 Schüler. Ich dankte dieser neuen Generation für die guten Taten ihrer Großmütter, Urgroßmütter und Großtanten. Für die Schüler war es eine Lernerfahrung, wie sie sich nur sehr selten ergibt. Und für mich war es ein ganz besonderes, unbeschreibliches Erlebnis. Mein Erscheinen vor dem Gemeinderat wäre eine sorgfältig geplante, formelle Veranstaltung gewesen. Doch mein Auftritt vor diesen jungen Menschen, die sich noch in ihrer Entwicklung befanden, war alles andere als formell. Es handelte sich um eine intensive, sehr persönliche Begegnung zwischen einer Gruppe von jungen Menschen und mir. Sie hinterließen einen unauslöschlichen Eindruck bei mir und ich denke, dass auch ich sie stark beeindruckt habe. Aus einer Zeit, die sechzig Jahre zurücklag, aus einer schwierigen Periode der lokalen Geschichte, tauchte plötzlich jemand aus Fleisch und Blut an ihrer Schule auf und legte Zeugnis ab vom Mut und von den hohen moralischen Grundsätzen ihrer Vorfahren.

 

IN SANKT ANNA AM AIGEN WURDE MEIN LEBEN GERETTET.

Die Schüler hörten gespannt zu und stellten anschließend ausgezeichnete, lebhafte Fragen.

 

 

 

 

Nach unserem Besuch in der Schule verkündet mein Vater:

 

”Mission erfüllt!“

 

Wir sind nach St. Anna gekommen, um danke zu sagen, und diese Aufgabe haben wir

erfüllt. Apu hat mehreren Schülergruppen von den Heldentaten ihrer Großmütter und Großtanten erzählt. Er hat die Geschichte an eine neue Generation weitergegeben, um sie so vor dem Vergessen zu bewahren. An einem einzigen Vormittag haben wir das wichtigste Ziel unserer Reise erreicht. Mein Vater ist überglücklich.

 

Der Bürgermeister und seine Frau bringen uns zum Gasthaus Wolf zum Mittagessen, das in diesem Teil der Welt die Hauptmahlzeit darstellt. Die Geschäfte sperren zeitig auf (üblicherweise um 8.30 Uhr), sind zwischen 12 Uhr mittags und 3 Uhr nachmittags geschlossen und öffnen wieder für die Zeit von 15 Uhr – 18 Uhr. Die Leute gönnen sich zu Mittag eine umfangreiche Mahlzeit und legen dann eine Ruhepause ein. Das Abendessen hingegen besteht meist aus einem leichteren Gericht.

 

Nach dem gemeinsamen Mittagessen mit dem Bürgermeister und seiner Frau (die nun fürs Dolmetschen zuständig ist) gehen wir auf Entdeckungsreise. Wir sehen uns an, was von den Panzergräben noch übrig ist, die während des Krieges ausgehoben wurden. Teile davon existieren noch immer, es sind tiefe Rinnen, die sich durch die Wälder und Felder ziehen. Wir erfahren, dass auch die lokale Bevölkerung dazu genötigt wurde, sich am Bau der Gräben zu beteiligen. Mein Vater kann sich an Dorfbewohner erinnern, die parallel zu ihm eine Straße entlanggingen und landwirtschaftliche Geräte trugen. Er dachte stets, dass sie zur Arbeit auf den Feldern unterwegs waren. Nun wissen wir, dass auch sie zur Mitarbeit an den Panzergräben gezwungen wurden. In der Tat waren auch sie Sklaven. Wir werden, ebenfalls mit Unterstützung des Bürgermeisters, auch den Ort ausfindig machen, an dem Apu die letzten Kriegstage verbracht zu haben glaubt. Die Einheimischen nennen ihn „Granitbaracke“.

 

 

 

 

 

 

Querschnitt des Panzergrabens, den wir anlegen mussten.


Blick in Richtung Süden

 

Den Aufzeichnungen im Archiv zufolge - und nach Herrn Schobers Berechnungen - betrug die Länge des von uns geschaffenen Panzergrabens etwa 1800 m. Diese Zahl passt zu der Menge an Erde, die wir bewegen mussten. Die Skizze oben zeigt einen Querschnitt des Grabens. Im Februar und März, bei winterlichen Bodenbedingungen also, musste eine Gruppe von zehn Zwangsarbeitern pro Tag einen Meter Graben fertig stellen. Für die Errichtung dieses Abschnitts brauchten wir sechzig Tage.

Im Laufe von sechzig Jahren hat sich der Boden erholt und nur ein kurzes, teilweise wieder aufgefülltes Teilstück blieb zur Erinnerung bestehen, festgehalten für die Zukunft auf dem folgenden Foto.

 


2.
Die Kamera blickt Richtung Süden

Ich kletterte aus freien Stücken in den Graben. Es fühlte sich anders an als im Jahr 1945, als wir beim Bau die ganze Erde hinausschaffen mussten. Ich fühlte mich frei.

 

 

 Gemeinsam mit dem Bürgermeister und seiner Frau erkunden wir den Platz, an dem die "Krankenbaracke" stand. Es gibt im Wesentlichen zwei Orte, an denen Baracken zu finden waren: Einer davon wird "Höll" genannt, der andere heißt "Schuffergraben". Die Granitbaracke lag im Bereich des Schuffergrabens. Man zeigt uns mehrere Stellen, wo von der einheimischen Bevölkerung Massengräber entdeckt wurden. Heute wächst auf diesen Feldern, die so nah an der Grenze zum heutigen Slowenien liegen, Mais. Wir fahren zur Grenze, die größtenteils unbewacht ist, und überqueren sie ungehindert. Als wir einige Tage später noch einmal an der Stelle vorbeikommen, bemerken wir Wachtposten. Die Kontrolle der Grenze findet hier mit Unterbrechungen statt. Freiheit ist in diesem Winkel der Erde... eine sporadische Angelegenheit.     

In einem der Maisfelder hebt der Bürgermeister einen roten Ziegelstein auf. Er erklärt, dass der Pflug jedes Mal beim Umgraben ein oder zwei solcher Steine ans Tageslicht befördert. Der Ziegelstein stammt angeblich vom Fundament einer der Krankenbaracken, vielleicht von jener, in der mein Vater lag, vielleicht auch nicht. Sicher ist jedoch, dass er von einem der Gebäude herrührt, die die Deutschen zum damaligen Zeitpunkt in Verwendung hatten. Aufgrund des Steinfundaments sprachen die Ortsansässigen von der "Granitbaracke". Wir brechen ein Stück des Ziegels ab, um es mit nach Hause zu nehmen.   



           

Hier in den Maisfeldern wurde mir bewusst, dass die Krankenbaracke mit der so genannten Granitbaracke identisch war. Wir erfuhren auch, dass am Tag der Befreiung spätnachmittags das größere, blaue Gebäude gesprengt und dem Erdboden gleichgemacht wurde, die Holzbauten wurden in Brand gesetzt. Die Flammen waren am frühen Abend zu sehen und der Rauch, der Geruch der brennenden Gebäude, machte sich in Aigen, das weniger als 2 km entfernt liegt, stark bemerkbar.
 

Hier in den Maisfeldern erinnerte ich mich an die Ereignisse, die mich in die "Granitbaracke" brachten.       

Gegen Ende März 1945 erkrankten etwa 40 von uns an Flecktyphus, wir wurden vom Rest des Trupps getrennt und marschierten zu einer anderen Baracke außerhalb von St. Anna am Aigen. Wir gingen zu Fuß und jeder von uns hatte einen Kumpel, einen oder zwei Kameraden, die uns halfen, unser Ziel zu erreichen. Gyuri war mein Kumpel, mein Kamerad, der mir half. (Für zusätzliche Details lesen Sie bitte das Kapitel mit dem Titel GYURI).  Südlich des Dorfes, in einiger Entfernung, kamen wir zu einem Lager, das zum Großteil aus Holzbaracken bestand. Sie standen leer und wir, die Kranken, wurden die neuen Bewohner. Die Baracken waren bereits zuvor benutzt worden, befanden sich jedoch in einem ordentlichen Zustand, als wir einzogen. Wir wussten nicht, wer zuvor dort gewesen war. Wir waren dort hingebracht worden, um zu sterben. Wir wurden weder bewacht noch beaufsichtigt (das war im Übrigen auch nicht notwendig, wir wären gar nicht in der Lage gewesen, wegzulaufen), wir wurden auch nicht ärztlich versorgt und erhielten nichts zu essen. Ich erinnere mich, einmal ein Stück schimmliges Brot geröstet und gegessen zu haben. Ich weiß nicht, woher ich das Brot hatte. Ich kann mich auch nicht erinnern, wer das Feuer in dem kleinen bauchigen Eisenofen unterhielt. Und ebenso wenig weiß ich, von wem die Leichen regelmäßig entfernt wurden. Rund um mich herum starben die Menschen.

Ich erinnere mich jedoch lebhaft, dass ich am späten Nachmittag des 4. April, während ich auf dem Stockbett lag und aus dem Fenster blickte, einen deutschen Soldaten beim Aufstellen eines Maschinengewehrs auf dem "Exerzierplatz" beobachtete. Ich wusste, das Maschinengewehr würde auf uns, die kranken jüdischen Zwangsarbeiter, gerichtet werden. Damals berührte mich das überhaupt nicht. Dann kam ein anderer Soldat auf einem Fahrrad, die beiden unterhielten sich kurz und anschließend packte der erste Soldat sein Maschinengewehr wieder ein und beide verließen eilig den Ort. Am nächsten Morgen stellten wir fest, dass wir von der Roten Armee befreit worden waren. Meine Befreiung fand in völliger Stille statt. Niemand sagte uns, dass wir frei waren. Keine Menschenseele kam zu uns und informierte uns. Andererseits, unser Lager bestand aus ein paar Holzbaracken mit einer Reihe von Leichen darin. Zudem lagen einige Menschen im Sterben und hatten nur noch wenige Minuten oder Stunden zu leben. Vielleicht 6 oder 7 von uns waren noch am Leben. Gerade noch am Leben. Die Rote Armee hatte unser Lager entweder in der Nacht oder am frühen Morgen des 5. April passiert. Sie tat das, ohne einen einzigen Schuss abzufeuern. Am Morgen stand ich auf, wie auch an den Tagen zuvor. Ging nach draußen. Und in einiger Entfernung, nahe der Straße, sah ich russische Soldaten vorbeischlendern. Es muss ungefähr zwischen 7 und 8 Uhr morgens gewesen sein. Ich informierte die anderen von dieser neuen Entwicklung. Ich musste mich aufraffen und losmarschieren. Nach Hause gehen! Ich durfte keine Zeit mehr verlieren! Unverzüglich stellte ich eine kleine Gruppe von 5 Kameraden zusammen und verließ die Krankenstation Richtung Osten, Richtung Ungarn.


Ich sagte: gerade noch am Leben. Zehn Tage später, am 15. April, traf ich meinen Vater und dieser beschrieb unser Wiedersehen in seinem Buch "Amerikai Üzenetek" wie folgt: 

             "…Und ein sieches, erschreckend mageres, zitterndes Skelett schwankte auf  mich zu: mein Sohn!"



Hier in den Maisfeldern überreichte uns der Bürgermeister einen Ziegelstein. Einen von vielen, die dort herumlagen. Einen Ziegelstein, ein handfestes Beweisstück für die Granitbaracke. Und damit schenkte mir Bürgermeister Weinhandl auch eine emotionale Befreiung.


Hier in den Maisfeldern, als ich die Topographie des Feldes sah, realisierte ich, dass die Krankenbaracke ein Teil der so genannten Granitbaracke gewesen war.

Hier in den Maisfeldern stand ich ganz in der Nähe des Hügelrückens, der meinen Blick vom Stockbett aus begrenzt hatte. Das Areal, auf dem wir uns befanden, war eben und die von Norden nach Süden verlaufende Straße lag etwa 50 m westlich von uns. Daher hatte ich die Straße von meinem Stockbett aus nicht sehen können. Das Fenster in meiner Baracke war etwa 15 Meter unter dem Niveau des Hügelrückens gewesen, auf dem wir nun standen. Die Deutschen aber hatten gewusst, dass dies ihr Fluchtweg war. 

Am 5. April 1945 waren wahrscheinlich weniger als 20 Zwangsarbeiter noch am Leben, alle mehr oder weniger vom Tod gezeichnet. Wie viele überlebten den Tag? Wie viele starben innerhalb weniger Stunden nach der Befreiung? Ich wusste es nicht. In der Früh, so gegen 8 Uhr, sah ich russische Soldaten. Ich informierte die anderen von dieser neuen Entwicklung. Ich hatte das Gefühl, mich aufraffen und losmarschieren zu müssen. Nach Hause gehen! Ich durfte keine Zeit mehr verlieren! Unverzüglich stellte ich eine kleine Gruppe von 5 Kameraden zusammen und verließ die Krankenstation Richtung Ungarn. Vom Lager aus gingen wir Richtung Süden und nach einer kurzen Strecke, nach vielleicht 100 - 120 Metern, bogen wir nach links zur Straße ab und gingen Richtung Osten weiter. Wir waren zu Fuß unterwegs. Wir marschierten bis ungefähr 4 Uhr nachmittags. Insgesamt legten wir etwa 3 km zurück. Jawohl, drei Kilometer. Das war eine ungeheure Leistung für einen ganzen Tag Marschieren. Das sagt wohl alles über unsere körperliche Verfassung damals. Dann stießen wir auf eine Kompanie russischer Soldaten, die dort ihr Lager aufgeschlagen hatten. Sie hatten eine Küche und ein Feldspital. Wir wurden von einem russischen Geheimdienstoffizier vernommen. Dieser war sehr freundlich und gab uns Ratschläge und sagte uns, was wir tun sollten und wie wir unsere Heimatorte erreichen konnten. Dann erhielten wir zu essen und einen Platz zum Schlafen. Nach dem Frühstück am nächsten Morgen, ausgestattet mit Lebensmittelpaketen, machten wir uns auf den Weg zur Bahnlinie, auf der der russische Nachschub an die Front gebracht wurde. Also zusammenfassend: Am 5. marschierten wir 3 km und schliefen in einem russischen Lager. Am 6. legten wir vielleicht 5 km zurück und schliefen unter freiem Himmel. Am 7. marschierten wir noch einmal etwa 4 km und erreichten die Bahnlinie. Ich verließ den Eisenbahnwaggon nicht, ehe wir in den Vororten von Budapest angekommen waren. Unterwegs verabschiedeten wir uns von den anderen, die das Ziel ihrer Reise bereits erreicht hatten.     

Hier auf dem Maisfeld kamen wir zum Schluss, dass das russische Camp auf einer Wiese im nächsten Tal war, östlich von Kramarovci/Sinnersdorf, nur etwa drei Kilometer entfernt. Übrigens, Herr Schober fand basierend auf seine Nachforschungen heraus, dass die Bahnstation in Mackovci war, 12 km von der Granitbaracke entfernt. Diese könnten wir zu Fuß in Richtung Kramarovci – Jurij – Grad/Gornja Lendava erreicht haben.

Hier in den Maisfeldern ging ich die Schritte noch einmal, die ich am Morgen des 5. April 1945 gemacht hatte, als ich in Richtung Osten aufbrach, nach Kramarovci, nach Ungarn. Und auf einer kleinen Brücke stellte ich mich ungehindert über die Grenze, ein Bein in Österreich, das andere in Slowenien.


Mittlerweile stand fest, dass die Granitbaracke die "Krankenstation" gewesen war, wo ich meine letzten Tage als Zwangsarbeiter verbracht hatte. Aber wo waren wir 1945 in St. Anna untergebracht gewesen? Nach diesem Emailverkehr kramte ich in meinen Erinnerungen und machte die folgenden Anmerkungen:

Das Schulgelände war von einem etwa 2 m hohen (oder vielleicht auch etwas niedrigeren) Maschendrahtzaun umgeben. Heute, nach sechzig Jahren, schätze ich, dass die Straßenseite etwa 35 m lang war, die Rückseite hingegen war eindeutig kürzer. Die in Ost-West-Richtung verlaufenden Seiten waren 50 m lang. Und die südöstliche Ecke des Zaunes war möglicherweise leicht abgerundet oder unregelmäßig und folgte dem Grundriss der eingezäunten Gebäude. Die Straßenseite mit dem Doppelflügeltor lag auf der Westseite. Das Tor ging nach innen auf und ergab bei voller Öffnung eine Einfahrt von etwa 7 m Breite, was reichlich Platz bot, so dass zwei Pferdefuhrwerke das Tor gleichzeitig passieren konnten, eines in Richtung Hof, das andere nach draußen. In den Gebäuden auf dem Gelände waren die Ukrainer im vorderen Klassenzimmer untergebracht. Die übrigen Klassenzimmer dienten als "Wohnquartiere" für die jüdischen Zwangsarbeiter. Ich ging davon aus, dass sich die Küche irgendwo in den hinteren Räumen befand. Darüber hinaus grenzten im Osten und Süden mehrere Nebengebäude und Schuppen an den Zaun an. Alle Aktivitäten zwischen den Nebengebäuden und dem Zaun blieben vor neugierigen Blicken verborgen. An diesen versteckten Plätzen waren Gyuri und ich über den Zaun geklettert. 

Ich bin mir sicher, dass in den unmittelbar südlich des Schulgeländes gelegenen Gebäuden niemand wohnte. Ich kann mich nicht erinnern, während unserer Ausflüge dort jemals einen Menschen gesehen zu haben. Die Gebäude waren nicht eingezäunt und man konnte sie leicht passieren. Darüber hinaus boten sie uns eine hervorragende Deckung, sowohl beim Verlassen des Lagers als auch bei unserer Rückkehr. Insbesondere, wenn wir von unseren "Lebensmittel-Beschaffungstouren" zurückkamen. Wir konnten die Situation auf dem Schulhof abschätzen, ohne uns zu zeigen, indem wir zwischen den Gebäuden Verstecken spielten. So konnten wir den richtigen Moment abwarten, um auf das Gelände zurückzuklettern. Sorry, aber das war nun einmal nicht der geeignete Zeitpunkt für Sightseeing. Darum habe ich auch dem Verwendungszweck der Nachbargebäude kaum Beachtung geschenkt. Aber ich bin froh, dass sie dort standen, und wir freuten uns über den Sichtschutz, den sie uns boten. Wir machten uns die spezifischen örtlichen Gegebenheiten zu Nutze. (In Ermangelung einer besseren Bezeichnung habe ich weiterhin den Ausdruck "Schulgelände" verwendet.)


Während der Bürgermeister rote Ziegelsteine vom Maisacker aufsammelte, telefonierte Frau Weinhandl eifrig mit ihrem Mobiltelefon. Der Schulunterricht war gerade zu Ende gegangen und die Kinder berichteten ihren Müttern von den Erlebnissen im heutigen "Geschichtsunterricht" und von meiner Danksagung. Die Mütter, die anriefen, gaben alle sehr positive Kommentare ab, die Frau Weinhandl an uns weiterleitete.

 

 

Später am Nachmittag schließen sich uns Herr Schober und seine Tochter an und wir kehren noch einmal an dieselben Plätze zurück. Danach fahren der Bürgermeister und seine Frau nach Hause und Herr Schober bringt uns nach Bad Gleichenberg (einem nahe gelegenen Kurort) in etwa 20 Minuten Entfernung. Dort sitzen wir in einem Gastgarten und schlürfen Diet Coke (in Österreich Coca Cola Light genannt), während die Sonne langsam untergeht. 

Das war unser erster voller Tag in St. Anna und wir haben die Kinder in der Schule getroffen und den Standort der Krankenbaracke ausfindig gemacht. Doch ein großes Rätsel bleibt: Wo befand sich das Lager, in dem Apu untergebracht war, ehe er krank wurde? Er ist sich mittlerweile sicher, dass das alte Schulhaus nicht der gesuchte Ort ist! Wer weiß, was uns der morgige Tag bringen wird?

 




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