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RESÜMEE

Ich reiste nach Sankt Anna am Aigen mit dem vorrangigen Ziel, DANKE zu sagen für die lebensrettenden Nahrungsmittel, die mir geholfen hatten, die Befreiung zu erleben. Mit dem Ziel, vielleicht auf Menschen zu treffen, die im Jahr 1945 in den betroffenen Dörfern gelebt hatten. Und mit dem Ziel, die Orte, an denen ich geschlafen, gearbeitet und um Essen gebettelt hatte, zu besuchen und wiederzusehen. All das habe ich innerhalb von fünf kurzen Tagen erreicht.


Sechzig Jahre lang hatte ich in dem Glauben gelebt, dass sich der Ort, an dem ich meine tägliche Essensration bekam, und der Raum, in dem ich schlief, im Schulhaus befanden. Doch bereits bei meiner Ankunft in St. Anna begann ich daran zu zweifeln, dass das Schulgebäude mein Schlafquartier gewesen war. Innerhalb von zwei Tagen fanden wir heraus, dass das Lippe-Lagerhaus als unsere "Frühstückspension" gedient hatte. Doch die Vorstellung, im Schulhaus untergebracht gewesen zu sein, ließ mir keine Ruhe. Woher hatte ich die Idee, dort geschlafen zu haben?


Während ich meine Österreichreise vom Juni 2005 zusammenfasste, korrespondierten Dr. Lappin, Bürgermeister Weinhandl, Frau Weinhandl, Herr Schober und ich weiterhin via Email miteinander. Im Laufe der Zeit beschrieb ich dabei immer wieder scheinbar zusammenhanglose Episoden aus der Zeit meines Zwangsarbeiterdaseins. Diese Episoden schienen deshalb ohne Zusammenhang, weil ich sie nach sechzig Jahren nicht richtig einordnen konnte. Im Mai 2006, fast ein Jahr nach meiner Reise, stieß Dr. Lappin beim Lesen eines dieser Emails auf einen wichtigen Punkt, der sie auf eine neue Idee brachte. Wie Archivdaten zeigten, lag sie damit richtig. Wenn man die Teile des Puzzles richtig zusammensetzt, ergibt sich folgendes Bild:


Wir arbeiteten als Zwangsarbeiter in der ausgebombten Ölraffinerie in Szöny, Ungarn. Es war der erste Weihnachtsfeiertag des Jahres 1944. Die regulären Arbeiter aus der Umgebung hatten frei, sie feierten Weihnachten. Doch Feiertag hin oder her, die deutsche Armee brauchte Öl. Die Raffinerie stand still, während die Pipelines weiter Rohöl anlieferten. Die Leitungen wurden angezapft und das Erdöl in Stahlfässer zu je 55 Gallonen verladen. Für diese Aufgabe wurden wir, ein Kontingent jüdischer Zwangsarbeiter, eingeteilt. Wir mussten die Fässer befüllen und sie anschließend auf die deutschen Lastwägen rollen. Eine schmutzige, rutschige und gefährliche Arbeit, die mir in Erinnerung geblieben ist. Zwei oder drei Tage später mussten wir das Lager räumen. Wir erhielten neue Wachen zugeteilt, brutale Militärpolizisten, die eigens für diese Aufgabe ausgebildet worden waren. Todesmarsch Richtung Westen.



Wir marschierten von Szöny in Richtung Komárom, Győr, Sopron. Und von Sopron weiter nach Österreich. Tagsüber marschierten wir, nachts wurden wir eingesperrt. Jeder, der aus der Marschkolonne heraustreten musste, aus welchem Grund auch immer, wurde sofort erschossen. In der Nähe von Sopron, noch ehe wir die Stadt erreichten, wurde uns befohlen, am Straßenrand anzuhalten. Wir mussten den Inhalt unserer Taschen und Rucksäcke auf unsere Decken leeren. Praktisch all unsere persönlichen Habseligkeiten wurden konfisziert. Um dieses Ziel - die Beschlagnahmung unserer Habe - zu unterstreichen, wurden willkürlich zwei Kameraden ausgewählt und vor unseren Augen von einem Exekutionskommando erschossen. Diese Farce wurde unter dem Vorwand inszeniert, die beiden hätten versucht, etwas in ihren Taschen zu verbergen. Das Ganze diente nur zur Warnung. Nahezu alles wurde konfisziert, ausgenommen davon waren nur die Kleider, die wir am Leib trugen, und unsere Decken. Darüber hinaus durfte ich nur meine Ausweispapiere sowie den leeren Rucksack mit dem Essgeschirr und der Feldflasche, meine Zahnbürste und meinen Gillette-Rasierer behalten. Wir mussten uns jeden Tag rasieren, doch das dazu benötigte Wasser wurde uns verweigert. Von da an reisten wir mit leichtem Gepäck. Ich erinnere mich daran, dass wir gegen Ende unseres Marsches im Stadtzentrum von Sopron Schnee schaufeln mussten. Unser letzter Aufenthalt in Ungarn war die Steiner-Ziegelfabrik in der Soproner Aranyhegy Straße Nr. 1.




Wie es scheint, diente die Ziegelfabrik als Zwischenstation, als Konzentrationslager. Bei unserer Ankunft befanden sich dort bereits mehrere hundert Juden. Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, sah ich auch jüdische Frauen. Tagtäglich wurden Menschen ausgesondert, in Zwangsarbeiterkompanien eingeteilt und weggebracht. Als wir ankamen, wurden wir einfach unter den anderen Lagerinsassen aufgeteilt. Wenn ich mich recht erinnere, war das der Moment, in dem Gyuri und ich von unseren Kameraden - mit denen wir früher, in Szöny, Freundschaft geschlossen hatten - getrennt wurden. Wir schliefen eine oder vielleicht auch zwei Nächte in der Ziegelfabrik und wurden dann einer neuen Gruppe zugeteilt, um in ein anderes Lager gebracht zu werden.


Doch bevor wir die Ziegelfabrik verlassen, möchte ich noch die Topografie des Ortes beschreiben:   

Ein Tor gewährte von der Straße aus Einlass. Diese Straße (Aranyhegy) verlief auf einer Hügelkuppe, rechts und links davon abfallendes Gelände. Vom Eingang weg hatte der Boden ein Gefälle von etwa 2 - 3 Prozent. Wenn man beim Tor stand, konnte man das gesamte Fabrikareal überblicken. Neben dem Tor, zur Linken des Betrachters, stand ein ziemlich eindrucksvolles Haus. Dieses Gebäude mochte als Unterkunft für den Fabrikbesitzer und seine Familie und als Verwaltungsgebäude gedient haben. (Während unseres Aufenthalts wurde es jedenfalls als Lagerbüro und Offiziersquartier verwendet.) Ebenfalls auf der linken Seite befand sich eine Reihe offener Schuppen auf dem Hang, wo die ungebrannten Ziegel zum Trocknen gelagert wurden. Vorne und auf der rechten Seite stand der große Ziegelbrennofen. Darin befand sich eine ovale Gleisanlage mit etwa sechs bogenförmigen Öffnungen an den Seiten. (Während wir dort waren, waren sämtliche Öffnungen bis auf eine - zumindest zur Straßenseite hin - versperrt.) Hinter dem Ziegelofen standen weitere nur aus einem Dach bestehende Schuppen zur Lagerung der Ziegel. Und es gab auch ein paar gänzlich eingefriedete Lagerschuppen. (Ich glaube, dass während unseres Aufenthalts dort jüdische Frauen untergebracht waren. Es ist auch möglich, dass die Gleisanlage innerhalb des Ofens abgesperrt war und mit einer Öffnung auf der gegenüberliegenden Seite Raum für die Frauen geschaffen worden war.) Der Ofen war auf einem flachen Teil des Geländes errichtet worden. Seine Längsachsen verliefen parallel, oder zumindest nahezu parallel, zur Straße. Das gesamte Areal war etwas größer als zwei Fußballfelder. Die Auskleidung innerhalb des Ofens bestand aus feuerfesten Ziegeln. Wir schliefen in zwei Reihen auf dem ebenen Boden innerhalb des ovalen Tunnels. Dieser war bogenförmig, sein unteres Ende abgeflacht. Unsere Köpfe berührten die Wand, unsere Füße schauten in Richtung der Füße der anderen Gefangenen. Dazwischen lag ein Gang von weniger als einem Meter Breite. Wir lagen Körper an Körper, ohne Zwischenraum zwischen den einzelnen Personen. Auf diese Art und Weise konnten 1500 - 2000 Zwangsarbeiter in die Anlage gepfercht werden.



Während meiner Recherchen zum Standort der Steiner-Ziegelfabrik stellte ich fest, dass ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter direkt in der Fabrik in Massengräbern verscharrt worden waren. Ich fand auch heraus, dass die Familie Steiner im Zentrum von Sopron gewohnt hatte, und nicht in dem eindrucksvollen Gebäude auf dem Fabrikgelände.


Die Gleise der Bahnlinie Győr-Sopron-Ebenfurt verlaufen auf der anderen Seite der Straße, in einiger Entfernung zu ihr.   

Die Ziegelfabrik gehört zu den wichtigsten Puzzlesteinen, die Dr. Lappin in den Archiven ausgegraben hat. In den vergangenen sechzig Jahren war sie stets in meinen Erinnerungen herumgegeistert, aber ich konnte sie nicht richtig einordnen. Es fehlten einfach die Verbindungsglieder.


Von der Ziegelfabrik wurden wir - zu Fuß - zu einem anderen Zwischenlager gebracht (das sich bereits in Österreich befand), wo wir entlaust und auf den weiteren Transport vorbereitet wurden. Es handelte sich um den kürzesten Tagesmarsch, seit wir Szőny verlassen hatten. Wir schafften die Strecke in etwa vier bis sechs Stunden.



 Es folgt eine kurze Beschreibung der Entlausungsstation:


Ich denke, wir waren in einer ziemlich großen Weinkellerei. Das Entlausungsbad befand sich in einer überdimensionierten Halle mit drei - möglicherweise auch vier - großen Holzwannen. Stein-, Schiefer- oder Keramikfliesenboden. Vielleicht auch ein Erdboden, aber das ist sehr unwahrscheinlich. Der Boden war jedenfalls ziemlich glatt. Holzwannen dieser Art wurden in den Weinkellereien zum Auspressen der Weintrauben und zum Aufbewahren des frischen Traubensaftes verwendet, ehe dieser zum Fermentieren in Holzfässer umgefüllt wurde. Die Größe der Wannen betrug etwa 4 oder 5 Meter im Durchmesser, die Seiten waren etwas weniger als einen Meter hoch. Ich schätze, dass jede Wanne weit mehr als 1.000 Liter fasste. Sie waren zu etwa drei Viertel mit warmem Wasser gefüllt. Ich denke, das warme Wasser war hineingepumpt worden. Weinkellereien dieser Art waren definitiv mit Pumpen zum Umfüllen des Weines ausgestattet. Wir mussten gruppenweise ein kurzes Bad nehmen und dabei dasselbe Wasser benutzen. Jeweils fünfzehn von uns waren gleichzeitig in einer Wanne. Es gab auch Seife. Die Dampföfen waren runde, zylindrische Objekte mit stabiler Basis bzw. Unterbau. Der Durchmesser betrug etwa 60 cm, die Länge ca. 100 bis 120 cm. An der Vorderseite war eine Öffnung mit einer runden Tür. Mit schnellen Dampfkreisläufen versorgten vielleicht zehn bis zwölf Öfen eine Gruppe unserer Größe.

Von der Weinkellerei wurden wir nach St. Anna verlegt. Wir könnten mit der Bahn gefahren sein, in Güterwaggons, von einer nahe gelegenen Bahnstation bis in die Nähe von St. Anna, wahrscheinlich bis zum Bahnhof Fehring. Ich erinnere mich auch an eine Bahnfahrt, die ich nie richtig zuordnen konnte. Wir waren nicht allzu viele, vielleicht 150 - 160. Jedenfalls wurden wir nicht wie Sardinen in die Waggons gezwängt. Es gab genug Platz und die Türen waren nicht versperrt.

Wir kamen - im Laufe des Nachmittags - zu Fuß in St. Anna an und wurden zu unserer Schlafstelle im Lippe-Lagerhaus geführt, wo wir unser Quartier aufschlugen. Ich blickte mich um und abgesehen von meinem Freund Gyuri sah ich lauter neue Gesichter, keiner der alten Kameraden war hier. Unsere neuen Mitgefangenen waren meist junge Männer, etwa in meinem Alter. Wir alle waren ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter. Wir alle sprachen Ungarisch. Ich wusste nicht, dass in St. Anna bereits zwei weitere Gruppen mit ungarischen Juden an zwei verschiedenen Orten untergebracht waren, wenn auch in nächster Nähe. Sie waren bereits viel früher in St. Anna angekommen. Die erste Gruppe wohnte im Schulhaus, die zweite im Kino. Die dritte Gruppe, also wir, landete im Lippe-Lagerhaus.



Am nächsten Morgen wurden wir zu unserer Arbeitsstelle geführt, wo Gruppen von jeweils zehn Männern gebildet wurden, die zusammenarbeiteten. Meine Gruppe sollte in den nächsten zwei Monaten unverändert bleiben, auch Gyuri gehörte dazu. Wir arbeiteten gemeinsam. Wir unterhielten uns auf Ungarisch. Wir vertrauten einander bei der Arbeit. Wir arbeiteten harmonisch zusammen, sofern das Wort "harmonisch" hier angebracht ist. In unseren Gesprächen wurde das Schulgebäude unzählige Male am Tag als "unsere Unterkunft" erwähnt. Ich wusste nicht, dass acht der zehn Männer aus meiner Gruppe in einem anderen Gebäude als Gyuri und ich wohnten. Ich nahm an, dass wir alle am selben Ort untergebracht waren, wenn auch in verschiedenen Räumen, so dass wir uns nur an der Arbeitsstelle trafen. Es waren die Gespräche bei der Arbeit, durch die sich das Schulhaus in meine Erinnerungen eingeschlichen hatte.


Unsere Email-Korrespondenz förderte noch einen weiteren Aspekt zu Tage:



Vor unserer Verlegung nach St. Anna wurden wir Ende Jänner oder Anfang Februar 1945 in der Weinkellerei einer Entlausung unterzogen. Wie kam es, dass ich und andere Kameraden aus der Lippe-Lagerhaus-Gruppe in knapp zwei Monaten mit Flecktyphus infiziert wurden? Woher kamen die Läuse und die Krankheit? Dr. Lappin hat die Aussagen von Überlebenden gesammelt. Und daraus geht hervor, dass sich einige der Lagerinsassen bereits wieder von Flecktyphus erholten, als sie Ende März 1945 aus dem Kino weggebracht wurden. Die erste Gruppe war im Schulgebäude untergebracht, die zweite schlief im Kino und wir, die dritte Gruppe, wohnten im Lippe-Lagerhaus. Alle drei Gruppen lebten unter völlig unhygienischen Bedingungen. Die anderen waren bereits viel länger dort. Sie waren von Läusen befallen und mit Flecktyphus infiziert. Wir mischten uns untereinander und arbeiteten zusammen. So konnten sich die Läuse und die Krankheit unter uns ausbreiten. Und so war es möglich, dass ich innerhalb kürzester Zeit an Flecktyphus erkrankte.
      

Begleitet von Ron reiste ich nach Sankt Anna am Aigen, um DANKE zu sagen für die lebensrettenden Nahrungsmittel, die mir geholfen hatten, die Befreiung zu erleben. Wir erfuhren neue Einzelheiten über das Schicksal, das die ungarisch-jüdischen Zwangsarbeiter - darunter auch ich - in den Jahren 1944-45 in Sankt Anna am Aigen erlitten hatten. Wir machten den Ort ausfindig, an dem ich im Februar und März 1945 untergebracht war. Wir fanden die Stelle, an der sich Anfang April 1945 die Krankenbaracke - von den Einheimischen "Granitbaracke" genannt - befunden hatte, in die man mich zum Sterben gebracht hatte. Wir nahmen ein Ziegelstück von der "Granitbaracke" als Souvenir nach Hause mit. Wir trafen Maria Lackner, die sich als furchtlose junge Frau am Widerstand gegen das Naziregime und an der Hilfe für die Juden beteiligt und mir lebensrettendes Essen geschenkt hatte. Bei unserem Treffen mit Maria Lackner war auch eine Fotografin anwesend, die in einer großartigen Aufnahme einen wunderbaren, tränenreichen, einzigartigen, historischen Augenblick in unser beider Leben festgehalten hat. Wir lernten Menschen kennen, deren Großzügigkeit genauso wunderbar ist, wie die ihrer Mütter und Großmütter. Wir erlebten ein Gefühl der Freude und des Glücks, wie man es nur einmal im Leben erfährt. Und wir haben einen kleinen Teil der Geschichte neu geschrieben. Wir haben viel erreicht.


Am 18. Juli 2005, kurz nach meiner Rückkehr aus Österreich, legte ich Yad Vashem einen Antrag mit dem entsprechenden Beweismaterial vor, in dem das heldenhafte, lebensrettende Verhalten von Frau Maria Lackner bezeugt wurde. Am 17. März 2007 schickte Yad Vashem ein Anerkennungsschreiben an Maria Lackner, in dem ihr Dank und Wertschätzung dafür ausgesprochen wurden, dass sie mit ihrer Menschlichkeit zum Überleben der Holocaustopfer beigetragen hatte. Die Erinnerung an ihre humanitären Taten in einer Zeit, in der das jüdische Volk großes Leid erdulden musste, werden in den Archiven von Yad Vashem aufbewahrt werden, um zukünftige Generationen zu inspirieren.




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