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DONNERSTAG 16. JUNI

Beim Frühstück verkündet Apu, Frau Lackner noch einmal besuchen zu wollen. In der Nacht ist er zu dem Schluss gekommen, dass ihre Geschichten einfach zu viele Ähnlichkeiten aufweisen. Er ist nun überzeugt davon, dass sie tatsächlich die Frau ist, die ihm das Eierspeisbrot servierte. Gibt es dafür einen hundertprozentigen Beweis? Nein. Aber ich weise ihn darauf hin, dass das gar keine Rolle spielt. Apu sieht in Frau Lackner all die gutherzigen Menschen, die ihm Lebensmittel schenkten. Sie ist ein Symbol. Und Frau Lackner sieht in meinem Vater all die Zwangsarbeiter, denen sie zu essen gab. Er ist nicht der erste Überlebende, der mit den Menschen in St. Anna in Verbindung getreten ist. Auch andere haben an den Bürgermeister geschrieben. Aber er ist der erste, der persönlich an diesen Ort zurückgekehrt ist. Der erste, der eigens zurückgekommen ist, um danke zu sagen. Apus Besuch hat bei Frau Lackner viele Erinnerungen ausgelöst. Nun hat er beschlossen, dass es noch etwas gibt, das er ihr mitteilen möchte. Frau Weinhandl erklärt sich bereit, die nötigen Vorkehrungen zu treffen. 

Während des Vormittags besuchen wir gemeinsam mit Frau Weinhandl, Dr. Lappin und Herrn Schober verschiedene historische Schauplätze. Von besonderem Interesse ist dabei ein dicht bewaldetes Gebiet, wo, so erfahren wir, Juden in einem Massengrab verscharrt wurden. Frau Weinhandl weist darauf hin, dass das Gras, das dort wächst, anders ist als jenes, das sonst in der Gegend wächst. Ein dickes, kräftiges, hoch wachsendes Gras, das beinahe die Festigkeit von Bambus aufweist. Dieses Gras findet man sonst nirgends, sagt Frau Weinhandl. Sie nennt es Judengras. Dass ausgerechnet die Grabstätte von Juden, die Opfer des Krieges wurden, durch ein spezielles Gras gekennzeichnet sein soll, ist eine ziemlich mystische Vorstellung und nur schwer zu glauben. Und doch, während wir den restlichen Tag über durch die Gegend fahren, versuche ich vergebens, Gras vergleichbarer Qualität ausfindig zu machen. Es gelingt mir nicht. Diese Art von Gras kommt offenbar wirklich nur dort vor, wo sich das jüdische Massengrab befindet.   


 

 

 

 Und dieser spezielle Ort hat Ron dazu inspiriert, seinen Gedanken in Form eines Gedichts Ausdruck zu verleihen: 



Ein Grashalm

 

 

4. Der Baldachin

 

 

5. Judengras

 

Ich bin ein Grashalm und wachse,

Wo kein Grashalm wachsen dürfte.

Die Erde unter mir, kühl und feucht,

Wird nur selten von Sonnenstrahlen erwärmt

Umgeben von Bäumen,

Lebe ich im Verborgenen,

Im Schatten der Geschichte.



 

Ich bin ein Grashalm.


Bin nicht alleine.


Bin einer von vielen hunderten.


Unsere Gemeinschaft ist klein, doch unerschrocken.

Kein anderes Gras ähnelt uns.



 

Ich bin ein Grashalm.


Nirgendwo sonst wirst du etwas Vergleichbares finden.


Nicht an diesem Ort.


Nicht an einem anderen Ort.


Nicht in vielen Kilometern Umkreis.


Unsere Gemeinschaft ist einzigartig.

Wahrlich, wir sind etwas Besonderes.

 

Ich bin ein Grashalm.


Bin so ganz anders als meine vielen Brüder.

Nicht so zäh wie Riedgras.


Nicht so hübsch wie Zyperngras.


Nicht so hoch wie Bambusgras.

Und auch nicht so gepflegt wie Ziergras.


Man nennt mich Judengras.

Und ich wachse nur hier, an diesem besondren Ort.

 

Ich bin ein Grashalm.


Verborgen im Herzen Europas.


Verborgen in den Tiefen Österreichs.


Verborgen im Wald, wo die Sonne nur selten scheint.

Wo die Geschichte lauert wie endloser Nebel.

Ein Geheimnis, unfassbar und rätselhaft.


Ein Grashalm, wo kein Gras wachsen dürfte.

Außer Judengras.

 

Ich bin ein Grashalm.


Und wachse auf ganz besondrem Boden,

Einzigartig weit und breit.


Ein Ort, in keiner Karte verzeichnet.


Nur den Menschen hier bekannt.


Voll der Erinnerungen.


Gebeine der Geschichte.


Man nennt mich Judengras.

 

Ich bin ein Grashalm.


Und lebe an einem heiligen Ort.


Alsbald vergessen, sodann von Gott berührt.


Dieses Land hat eine Seele.


Hat viele, viele Seelen.


Und jede Menge Judengras.



 

Ich bin ein Grashalm.


Zeichen in einem gottverlassnen Wald,

Der ein tiefes Geheimnis birgt.


Verfluchte Erde.


Hunderte Tote, tief unter mir.


Ein Massengrab.


Daher der Name Judengras.



 

Ich bin ein Grashalm.

Einer von hunderten, die wachsen,

Wo kein Grashalm wachsen dürfte.

Mysterium der Wissenschaft.

Mahnmal der Geschichte.

Letzte Ruhestätte.

Namenlose Opfer des Holocaust.

Menschenleben, weggeworfen.

In Erde verscharrt, um Unrecht zu verbergen.

 

Ich bin ein Grashalm.


Und lebe im Verborgenen,

Im Schatten der Geschichte.


Die Toten zu meinen Füßen,

Sie strecken sich himmelwärts.


Finger aus Gras, die sich dem Himmel entgegenrecken,

Und nach den Sternen greifen.

Leben, in mir wiedergeboren.


Auch wenn ich nur ein Grashalm bin.



 

 Nach dem Mittagessen gibt Apu ein weiteres Interview. Die Reporterin macht Fotos von ihm, während er Bürgermeister Weinhandl vor dem Kriegerdenkmal die Hand schüttelt. Und sie begleitet uns, als wir zum Haus der Lackners zurückkehren. Auch diesmal besteht Frau Lackner darauf, uns zu bewirten. Gestern diese wunderbaren Brötchen. Heute köstlicher Kuchen mit frischen Erdbeeren. Martha Zöhrer, Frau Lackners Kusine, gesellt sich zu uns. Im Jahr 1945 war sie 12 Jahre alt und hielt sich gemeinsam mit Frau Lackner und dem einbeinigen Mann in dem Haus auf. Wieder werden Erinnerungen ausgetauscht, aber mein Vater hat Frau Lackner etwas Wichtiges mitzuteilen. Er möchte ihr sagen, dass er mittlerweile überzeugt ist, hier gewesen zu sein. Er glaubt, dass sie eine der Frauen war, die ihm zu essen gaben. Und dass Martha Zöhrer das junge Mädchen war, das den Fremden die Türe öffnete und die Straße ausspähte, ehe sie das Haus wieder verließen. Und er erklärt Frau Lackner, dass ihre Schuldgefühle völlig unbegründet seien. Dass er ohne ihre Güte möglicherweise nicht überlebt hätte. Allein schon die Tatsache, dass er heute in ihrem Haus sitze, beweise, dass sie keinen Grund habe, sich schuldig zu fühlen. Ich weise darauf hin, dass Apu später meine Mutter geheiratet und eine eigene Familie gegründet hat. Dass sowohl mein Bruder als auch ich Kinder haben. Und dass Apus Enkelin Stacey gerade ein Mädchen namens Abby Rose geboren hat. Die Güte, die Frau Lackner und die anderen Frauen aus St. Anna gezeigt haben, hat mittlerweile drei weitere Generationen möglich gemacht. Und ich frage sie: "Sehen Sie, was ein einziger Apfel bewirken kann?"



Frau Lackner bedankt sich unter Tränen. Ich glaube, dass ihr damit wirklich eine schwere Last von den Schultern genommen wurde. Der Besuch meines Vaters hat bei ihr eine Flut an Erinnerungen ausgelöst. Aber er hat ihr auch Frieden gebracht.



 

 

Später, als ich mich daran erinnerte, wie das Foto von Frau Lackner, Martha und mir gemacht wurde, schrieb ich folgendes Gedicht:


SECHZIG JAHRE SPÄTER
 


Vor langer Zeit, man schrieb das Jahr neunzehn'fünfundvierzig,


Befand ich mich auf dem Weg an den finsteren Abgrund.


Am Scheideweg erschien mir Maria als eine Prinzessin des Lichts


Mit Martha, dem Mädchen an ihrer Seite.

Sie zauberte etwas zu essen hervor und erleuchtete mir damit den Weg zum Leben.

Trotz ihrer guten Taten hegte sie Zweifel.

Sechzig Jahre später überquerte ich einen Kontinent und den Ozean.

Wir sind uns wieder begegnet mit all unsrem Sehnen.

Während ich ihre Hände drückte, konnten Martha und ich sehen,

Wie all ihre verbliebenen Zweifel von ihren Tränen hinweg gewaschen wurden.



 

Elisabeth Weinhandl hat das Gedicht ins Deutsche übersetzt. Näheres dazu findet sich im NACHWORT.

 




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